Hoellenglanz
Ausmaß eurer eigenen Kräfte zu erfahren und sie zu kontrollieren zu lernen. Ich werde dich nicht bitten, deine ganze Kraft einzusetzen, Chloe. Nur ein kleines bisschen mehr noch.«
Ich tat es und glaubte den ersten Schimmer eines Geistes zu erkennen.
»Wunderbar. Und jetzt nur noch ein bisschen mehr. Finde einen Rhythmus. Genau so. Langsam, aber fest.«
Meine innere Alarmsirene wurde immer lauter.
»Das reicht«, sagte ich. »Es fühlt sich nicht richtig an.«
»Aber du machst Fortschritte.«
»Vielleicht, aber ich fühle mich nicht wohl dabei, noch weiterzumachen.«
»Wenn sie nicht will …«, begann Tori.
»Victoria?« Margaret streckte ihr die Schlüssel hin. »Bitte geh und warte im Auto.«
Tori stand auf. »Kommst du, Chloe?«
Ich kam ebenfalls auf die Füße. Margarets Finger legten sich um meine Wade. »Du kannst nicht einfach weggehen und einen Geist so zurücklassen. Sieh ihn dir doch an.«
Die Luft schimmerte. Ein Arm schob sich hindurch. Ein Gesicht begann Gestalt anzunehmen und verblich wieder, bevor ich die Züge erkennen konnte.
»Er ist zwischen dem Limbus und der Welt der Lebenden gefangen«, sagte Margaret. »Du musst ihn ganz durchziehen.«
»Warum machen Sie es nicht?«, fragte Tori.
»Weil dies hier Chloes Lektion ist.«
Tori wollte widersprechen, aber ich schüttelte den Kopf. Margaret hatte recht. Ich musste lernen, solche Probleme zu beheben. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, einen Geist zwischen den Dimensionen eingesperrt zu lassen.
»Ich werde ihn zurückschicken«, sagte ich.
»Ihn bannen? Das funktioniert nicht, wenn ein Geist feststeckt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine, ihn zurückstoßen. Wie beim Beschwören, nur umgekehrt. Ich hab das schon gemacht.«
Der Blick, den sie mir zuwarf, erinnerte mich an einen Moment, als ich damals mit sieben Jahren unsere Haushälterin stolz darüber informiert hatte, dass ich bei einer Sammelaktion meiner Schule die Hälfte meiner Kleidung gespendet hatte. Mir war das nur vernünftig erschienen – ich brauchte das ganze Zeug nicht –, aber sie hatte mich genauso angestarrt, wie Margaret es jetzt tat, mit der gleichen Mischung aus Entsetzen und Unglauben.
»Man stößt niemals, absolut niemals einen Geist zurück, Chloe. Ich habe gehört, dass es möglich ist, aber …« Sie schluckte, als fehlten ihr die Worte.
»Ich glaube, es ist übel, das zu tun«, flüsterte Tori.
»Es ist fürchterlich – grausam. Du kannst nicht wissen, wohin du sie stößt. Sie könnten sonst wo enden, in einer … einer …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte dir jetzt keinen Schreck einjagen, aber du darfst dieses Risiko nie wieder eingehen. Verstehst du?«
Ich nickte. »Dann ziehe ich diesen hier einfach weiter zu uns …«
»Genau.«
Ich ging wieder auf die Knie und machte weiter, bis mir der Schweiß in die Augen zu rinnen begann. Ich ließ die inneren Alarmsirenen links liegen, und irgendwann begann der Geist, sich zu materialisieren.
»Das ist es, Chloe! Du hast’s fast geschafft. Noch ein letzter …«
Tori stieß einen Schrei aus. Meine Augen öffneten sich jäh, und ich starrte auf eine Eiche in der Nähe – etwas bewegte sich unter dem Baum, eine formlose Matte aus schwarzgrauem, über Knochen gespanntem Pelz.
»Schick es zurück«, flüsterte Tori. »Schnell.«
»Ignorier das und beschwör diesen Geist«, sagte Margaret.
Ich drehte mich ungläubig zu ihr um.
»Sind Sie verrückt?«, fragte Tori. »Sehen Sie dieses …«
»Ja, ich sehe es.« Margarets Stimme war unheilvoll ruhig. »Offenbar habe ich mich geirrt, was das Ausmaß von Chloes Kräften angeht.«
»Tatsächlich?«, fragte Tori.
Ich starrte Margaret an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Schock? Das musste es wohl sein. Sie kam mir nicht wie ein Mensch vor, der schnell die Nerven verliert, aber sie hatte gerade gesehen, wie ich ein totes Tier in seinen Körper zurückgerufen hatte – ohne Ritual, ohne Ingredienzien, ohne es auch nur versucht zu haben. Vor Entsetzen zu keuchen, wie Tori es tat, wäre eine vollkommen nachvollziehbare Reaktion gewesen. Aber sie tat nichts, sie beobachtete nur, wie dieses Ding auf uns zukroch und seinen zerschmetterten Körper hinter sich herzog.
Sein Kopf hob sich, als könne es spüren, dass ich es beobachtete. Aber es hatte keine Augen, keine Schnauze, keine Ohren, nur einen Schädel, bedeckt von Fetzen aus Pelz und Haut. Der Kopf wippte und schwankte, als versuchte es zu sehen, wer es gerufen
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