Höllenherz / Roman
ändert sich die Weltsicht ja nicht gleich, weil man gebissen wurde. Und tot aufzuwachen konnte man nicht gerade als Werbung für speziesübergreifende Beziehungen bezeichnen.
Wie dem auch sei, aus Lor wurde sie schlicht nicht schlau. Bedachte man, dass sie faktisch seine Gefangene war, hätte sie es weit schlechter treffen können. Er strahlte eine ungeheure Kraft aus, und doch hatte er ihr nichts getan. Das wollte eine Menge heißen.
Zudem schien er wild entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Womit sie zumindest eines gemeinsam hatten.
Nicht zu vergessen, dass er nett anzusehen war. Talia hatte schon immer ein Faible für harte, starke Typen gehabt, die mit ihren Händen arbeiteten. Typen, von denen man auf den ersten Blick weiß, dass sie eine Spüle oder ein Auto reparieren können und mit einer einzigen ach so geschickten Berührung einen miesen Tag vergessen machen. Ja, zu diesen Typen gehörte Lor eindeutig. Ein Haarschnitt und ein bisschen Beratung in puncto Garderobe, dann wäre er definitiv scharf. Ach ja, und er könnte ein paar Tipps in dieser Handschellensache gebrauchen. Die törnte ziemlich ab, wenn man es falsch anfing.
Aber was wollte man von einem Monster erwarten? Ein bitteres Lächeln trat auf ihre Züge.
Was heißt denn schon »Monster«?
War das überhaupt der treffende Ausdruck für einen Kerl, der in die Hölle ging, aus der er entkommen war, und seine Leute freikaufte? So etwas lieferte den Stoff für Legenden.
Keiner wurde zurückgelassen.
Diese Worte übten eine besondere Macht über Talia aus, denn ihr hatte niemand beigestanden, als es am meisten darauf angekommen war. Wieder und wieder.
Was hatte Lor gefragt? Wie sie in dieser Bredouille hatte enden können?
Der Auslöser war tatsächlich die Sache mit Max und dem Sukkubus-Bild gewesen. Damals war Talia eben alt genug, um es als Warnruf zu begreifen. Die Schlächterkultur definierte sich über das Töten von Monstern und die Verachtung von allem, was einen Mann schwach machte. Frauen eingeschlossen. Lust kam vor, war jedoch verpönt und gehörte in die finstersten Nischen verbannt. Mit diesem Bild hatte Talias Vater beizeiten Max’ Einstellung zu seinen künftigen Geliebten prägen wollen.
Die meisten Schlächterfrauen nahmen es hin, als Krieger zweiter Klasse und sonst so gut wie nichts zu gelten, aber Talias Mutter war keine gebürtige Schlächterin gewesen. Sie hatte in den Stamm eingeheiratet. Zwar konnte sie gegen den männlichen Einfluss auf Max wenig ausrichten, doch ihre Tochter lehrte sie, sich gegen die rigiden Überzeugungen zu behaupten. Ihrer Mom verdankte Talia die Courage, für sich selbst einzutreten.
Gegen den Wunsch ihres Vaters war Talia an die Universität gegangen, hatte sich dort hervorragend gemacht, einen Job gefunden, den sie liebte, und sich ein normales Leben aufgebaut – wenn auch ein einsames. Niemand war da, der die engen Familienbande ersetzen konnte, die Talia von der Wiege an kannte. Bis heute verband sie eine leidenschaftliche Hassliebe mit ihren Leuten. Zu schade, dass es keine Anonymen Abnabler gab!
Hi, ich bin Talia, und ich komme nicht von meinen mörderischen, perversen Wurzeln los.
Ihr Fehler hatte darin bestanden, dass sie sich wieder nach Hause locken ließ. Die Rückkehr hatte sie das Leben gekostet.
Ich habe versucht, eine gute Tochter zu sein. Ich hätte mich mehr anstrengen müssen, um eine gute Ehefrau zu werden.
Nein, Letzteres wäre ein Desaster gewesen.
Sie setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. In gewisser Weise hatte sie ihre Familie überlebt. Nicht einmal der Tod konnte sie aufhalten. Sogar den stand sie so wacker durch wie alles andere – nur dass jede Schlacht ein Stück von ihr forderte. Michelles Verlust traf sie hart, und ihr Kummer machte es Lor leicht, sie gefangen zu nehmen.
Das kann ich mir nicht leisten. Wenn ich dies hier überstehen will, muss ich einen klaren Kopf behalten.
Talia schloss die Augen. Erst jetzt begriff sie, dass diese ganze Mordverdachtgeschichte bedeutete, dass sie ihre Stelle als Dozentin aufgeben musste. Plötzlich überkam sie eine nostalgische Sehnsucht nach der Universitätsbibliothek, dem Geruch von frischem Papier und der gespannten Nervosität, die mit jedem Semesterbeginn im September einherging.
Das will ich nicht auch noch verlieren!
Ihre Studenten bildeten ihren einzigen Kontakt zur menschlichen Welt. Und die Welt der Bücher war der einzige Ort, an dem nicht zählte, dass sie ein Vampir war.
Der
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