Hoellennacht
Whiskytrinker, wenn es ernsthaft zur Sache geht.«
Nightingale trank noch einen Schluck und goss noch mehr Wein auf den Erdhügel. » Ich weiß, das ist ein verdammtes Klischee, dass einer am Grab seines Freundes einen Drink mit ihm teilt und mit ihm spricht, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Tatsächlich habe ich sogar an den Trick mit dem Glas und den Buchstaben gedacht, aber ich würde mich wie der letzte Trottel fühlen, wenn du mich dann noch einmal auffordern würdest, Jenny zu vögeln.« Er schüttelte den Kopf. » Nein, ich habe es nicht mit ihr getrieben. Und ich bezweifle auch, dass ich das jemals tun werde. Ich möchte nicht verderben, was wir haben– oder auch nicht verderben, was wir nicht haben. Jedenfalls, so oder so, wir haben es nicht gemacht. Und werden es wahrscheinlich auch niemals tun.« Er hob die Augen zum Himmel. » Ja, ich habe das › wahrscheinlich‹ gehört. Ein Freud’scher Versprecher?«
Nightingale roch am Flaschenhals. » Der ist gar nicht schlecht, oder? Aber er verschafft einem nicht dasselbe warme Gefühl wie ein guter Whisky. Oder auch ein schlechter.« Er trank noch einen Schluck. » Meine Mutter ist gestorben, Robbie. Meine richtige Mutter. Meine genetische Mutter.« Er runzelte die Stirn. » Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Weil ich bei ihr gar nicht das Gefühl habe, dass sie meine richtige Mutter ist. Sie war einfach nur eine bedauernswerte Frau, die nicht einmal selbständig essen konnte und die sich von einem Betrüger, der alt genug war, ihr Vater zu sein, dazu hatte rumkriegen lassen, mich zur Welt zu bringen. Sie hat sich die Pulsadern mit einem Messer aufgeschnitten. Jetzt wird ihre Bestattung organisiert. Ich glaube nicht, dass sie so gut besucht sein wird wie deine, Kumpel. Hast du Chalmers gehört? Der hat ein paar wirklich nette Dinge gesagt. Einen Moment lang wollte ich schon glauben, er wäre ein neuer Mensch geworden, aber dann hat er mich einbestellt und geröstet, weil er mich dafür verantwortlich machen will, dass der Volltrottel, der dich überfahren hat, sich umgebracht hat.«
Nightingale fluchte heftig. » Hat dir eigentlich nie jemand gesagt, dass du nach beiden Seiten schauen musst, wenn du über die Straße gehst, du dummer Sack? Wie konntest du nur vor ein verdammtes Taxi laufen? Und dann auch noch an einem Freitag, dem dreizehnten. Noch so ein dummes Klischee.«
Nightingale trank mehr und ließ noch einen Schluck Wein auf das Grab schwappen. » Na gut, die Sache ist die, Robbie. Jetzt sag ich dir, warum ich an deinem verdammten Grab sitze und eine Flasche billiges Gesöff mit dir teile.« Er holte tief Luft. » Ich brauche ein Zeichen, Robbie. Du musst mir Bescheid geben, dass es nach dem Tod noch etwas gibt, dass du noch immer irgendwo bist, dass es nicht…« Nightingale schloss die Augen und fluchte erneut. » Was zum Teufel mache ich eigentlich?«, murmelte er. » Das ist doch verrückt. Wahnsinnig.«
Er schlug die Augen auf. » Bin ich verrückt? Sitze ich hier und rede mit mir selbst? Oder kannst du mich hören? Das muss ich wissen, Robbie. Ich muss das wirklich wissen. Ich brauche etwas. Ein Zeichen. Etwas, woraus ich schließen kann, dass der Tod nicht das Ende ist. Du weißt, was so wichtig ist, Robbie. Du weißt, warum ich es wissen muss. Gib mir einfach ein Zeichen. Bitte.«
Eine Sternschnuppe leuchtete am Himmel auf und verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war.
Nightingale lachte rau. » Mehr kannst du nicht tun?«, fragte er. » Ein verdammter Meteorit? Ein beschissener Klumpen Eis und Stein? Ich brauche etwas Reales, Robbie. Ich muss deine Stimme hören oder dich sehen oder deine Hand auf meiner Schulter spüren. Das ist doch nicht zu viel verlangt, nachdem wir so viele Jahre Freunde waren.«
Er trank noch mehr Wein. » Noch jemand, den ich gekannt habe, ist kürzlich gestorben. Hat sich umgebracht. Ein Klient von mir. Er wollte, dass ich seiner Frau nachspüre, und als er dahintergekommen ist, dass sie eine Affäre hatte, hat er sich umgebracht. Er hat sich verdammt nochmal umgebracht, und jetzt gibt seine Frau mir die Schuld, überhäuft mich mit Schimpfnamen und droht damit, mich vor Gericht zu bringen… Das wird sie natürlich nicht tun. Aus ihr sprechen einfach nur Trauer und Wut. Wenn man jemanden verliert, möchte man um sich schlagen. Als ich von deinem Tod erfahren habe, hätte ich am liebsten den Fahrer des schwarzen Taxis umgebracht, der dich überfahren hat. Aber er war einfach nur zur
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