Hoellennacht
danach fragen. Ob nun aber als Analogie oder als Metapher, der Rauchring war wie das menschliche Leben. Er kam aus dem Nichts, verweilte kurze Zeit und war dann wieder verschwunden. Für immer verschwunden.
Bevor er Sebastian Mitchell getroffen hatte, hatte Nightingale nicht viel über seinen eigenen Tod nachgedacht. Der Tod war etwas, das jedem Lebewesen zustieß. So viel wusste er. Er gehörte dazu. Man wurde geboren, lebte und starb dann. Aber selbst als seine eigenen Eltern bei einem sinnlosen Autounfall ums Leben gekommen waren, war der Tod für ihn etwas geblieben, das nur anderen Menschen passierte. Er hatte gesehen, wie Sophie Underwood vom Balkon der Wohnung in Chelsea Harbour in den Tod gestürzt war, und er hatte um sie getrauert, aber das hatte ihn nicht dazu bewegt, über seine eigene Sterblichkeit nachzudenken. Robbie Hoyles Tod war ein Schock gewesen, aber Nightingale hatte sich nicht vorgestellt, er hätte an der Stelle seines Freundes stehen können. In seiner Zeit als bewaffneter Polizeibeamter hatte er sich in Situationen befunden, wo der Tod nur eine Pistolenkugel entfernt war, aber er hatte sich nie verwundbar gefühlt. Nun hatte Mitchell ihm gezeigt, was ihm bevorstand, selbst wenn er Kugeln aus dem Weg ging, beim Überqueren der Straße in beide Richtungen schaute, sich von hochgelegenen Orten fernhielt und im Auto immer den Sicherheitsgurt anlegte. Wenn man lange genug lebte, starb man sowieso. Das war die eine, schlichte Tatsache des Lebens. An irgendeinem Punkt endete es. Mitchell sah so aus, als blieben ihm nur noch ein paar Wochen zu leben. Dann würde er sterben, und damit wäre alles vorbei. Als Nightingale den alten Mann betrachtet hatte, wie er keuchend um Luft rang und Blut hustete, hatte er begriffen, dass eines Tages auch er selbst sterben würde. Es war ein schreckliches Gefühl, als griffe eine kalte Hand nach seinem Herzen und drücke zu. Er würde Jenny niemals wiedersehen. Würde nie wieder eine Flasche Corona oder einen guten Single-Malt-Whisky trinken. Würde sich nie wieder den Wind durchs Haar streichen lassen, wenn er den MGB mit aufgeklapptem Verdeck fuhr.
Er zog lange an seiner Zigarette und hielt den Rauch tief in der Lunge. Er würde nie wieder eine Zigarette rauchen, nie wieder ein hübsches Mädchen anlächeln, nie wieder einen Schokoriegel essen. Die Welt würde weitergehen, nichts würde sich verändern, aber er würde nicht mehr dazugehören. Und er würde nicht nur eine Woche, einen Monat oder ein Jahr tot sein. Es war nicht wie eine Krankheit, mit der man ins Bett ging, um wieder gesund zu werden. Der Tod galt für immer. Für immer und ewig. Bis ans Ende aller Zeiten, nur dass es kein Ende gab. Man war für immer tot, und Nightingale wollte nicht sterben und wollte nicht tot sein.
Nightingale blickte zum klaren Nachmittagshimmel hoch, der blau und wolkenlos war. Er wollte nicht sterben, aber das spielte keine Rolle: Es würde geschehen, ob ihm das nun passte oder nicht, früher oder später.
Er warf die Zigarettenkippe in den Fluss. Wieder erschauerte er und klappte den Kragen seines Regenmantels hoch. Es gab keine Lösung für das, was Nightingale beunruhigte. Er konnte nur das Unvermeidliche akzeptieren– dass er eines Tages sterben würde. Wiederholt blickte er zum Himmel hinauf. Dieses ganze Gerede darüber, dass seine Seele an den Teufel verkauft worden sei, beunruhigte ihn eigentlich nicht übermäßig. Er glaubte nicht an den Teufel, und er glaubte nicht an Seelen. Aber er glaubte an den Tod, und genau der machte ihm wirklich Angst.
Er ging zum Pub zurück. Es war kurz nach drei, und die Mittagsgäste waren gegangen. Zwei Rentner mit Schiebermützen saßen in einer Ecke, zu Füßen des einen schlief ein Terrier. Nightingale nickte ihnen auf dem Weg zur Theke zu. Der Wirt war ein leutseliger, dicker Mann mit zurückgekämmtem Haar. Er trug ein Hemd mit Stehkragen und rote Hosenträger. » Guten Tag, Sir, was darf’s sein?«, fragte er.
Nightingale wollte erst um ein Bier bitten, entschied sich dann aber anders. Er wollte etwas mit mehr Kick. » Einen Bell’s«, sagte er. » Mit Eis.«
» On the rocks, wie unsere amerikanischen Vettern gerne sagen.« Der Wirt hielt ein Glas unter den Ausgießer. » Sie kommen nicht von hier.«
» Ich besuche hier nur einen Freund«, sagte Nightingale, während der Mann das Glas ein zweites Mal unter den Ausgießer hielt. » Nur ein einfacher Whisky, ich muss noch fahren.«
» Es ist unsere Happy Hour«, sagte
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