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Hoellennacht

Hoellennacht

Titel: Hoellennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Leather
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alle gesagt– Nightingales Eltern waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
    In den Torbogen war ein Holztor eingelassen, das quietschend aufging. Auf einem schwarz beschrifteten Schild mit einem Kreuz oben standen der Name der Kirche und des Pfarrers, eines Reverend T. Smith. Außerdem wurde für den kommenden Mittwoch ein Flohmarkt zugunsten des Kirchendachrenovierungsfonds angekündigt.
    Es wurde allmählich dunkel, und in der Kirche brannte kein Licht. Als Nightingale dem Weg folgte, der rechts an dem Gebäude vorbeiführte, ging eine Halogenlampe mit Bewegungsmelder an und beleuchtete die Gräber zu seiner Rechten. Ein zweites Licht flammte auf, als er weiterging, und langgezogene Schatten fielen auf die Grabsteine. Die Buntglasfenster waren mit Maschendraht vergittert, die Regenrohre mit Antivandalismusfarbe gestrichen. Nightingale hatte den Verdacht, dass die Notwendigkeit, das Dach zu restaurieren, mehr mit den hiesigen Dieben als mit einfacher Alterung zu tun hatte.
    Das Grab seiner Eltern lag hinten, nahe der Friedhofsmauer, im Schatten einer großen Weide. Ein einziger Grabstein aus schwarzem Marmor stand darauf, in den die Namen William und Irene Nightingale eingraviert waren sowie ihre Geburtstage und der Sterbetag. Darüber prangten die optimistischen Worte: » Sie leben zusammen in Ewigkeit.« Es war das erste Mal, dass Nightingale ihn sah. Bei der Beerdigung war da einfach nur ein Loch im Boden gewesen, und über dem Erdhaufen, der wieder hineingeschaufelt werden sollte, hatten Kunstrasenstreifen gelegen. Er war neunzehn gewesen, und wenn jemand ihn damals gefragt hätte, ob er an Gott glaube, hätte er verächtlich gelacht und wahrscheinlich die Antwort verweigert. Wenn man ihm jetzt, vierzehn Jahre später, dieselbe Frage stellte, wäre das Lachen noch ironischer und er würde sich wahrscheinlich immer noch nicht die Mühe einer Antwort machen.
    Er blickte auf das Grab hinunter. » Komisch is’ die Welt, nich’ wahr?«, sagte er laut. In der Ferne heulte eine Eule. Die beiden Lampen gingen aus. Am wolkenfreien Himmel stand ein beinahe voller Mond, das Licht reichte also, um etwas zu sehen. Ein kalter Wind von hinten ließ ihn erschauern, und so schlug er den Mantelkragen hoch und steckte die Hände wieder in die Taschen. Seine rechte Hand stieß auf das Feuerzeug, und er umklammerte es wie einen Talisman. » Warum habt ihr mir nie gesagt, dass ihr nicht meine richtigen Eltern wart?«, sagte er leise zum Grabstein. Sein Atem bildete in der kalten Nachtluft kleine Wölkchen. » Ich hätte euch deswegen nicht weniger geliebt. Ihr werdet immer Mum und Dad für mich bleiben, was auch geschehen mag.«
    Wieder heulte die Eule. Nightingale seufzte. Was er da tat, ergab in seinen Augen überhaupt keinen Sinn. Er glaubte nicht an Geister, er glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, und er glaubte verdammt nochmal gewiss nicht, dass er mit seinen längst verstorbenen Eltern reden konnte. » Das ist doch verrückt«, sagte er. » Ich bin verrückt. Die ganze Sache ist verrückt.«
    Er nahm sein Feuerzeug und ein Päckchen Marlboro heraus und steckte sich eine Zigarette an. » Ich weiß, dass ich zu viel rauche«, sagte er. » Und ich trinke. Aber ich bin schließlich erwachsen.« Er sog Rauch in die Lunge, hielt ihn fest und atmete ihn dann langsam wieder zum Grabstein hin aus. » Habt ihr Gosling gekannt? Wusstet ihr, dass er mein richtiger Vater war? Ist das der Grund, warum ihr mir nie etwas gesagt habt? Ist das der Grund, warum ich nie von euch erfahren habe, dass ich adoptiert war?«
    Hoch oben zog ein Passagierflugzeug über den abendlichen Himmel, mit rot und grün blitzenden Positionslichtern. Nightingale blickte dort hinauf und rieb sich mit der linken Hand den Nacken. Er spürte die Anspannung in seinen Muskeln, die Sehnen waren so hart wie Stahlseile.
    » Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Stimme.
    Nightingale fuhr zusammen. Sein linker Fuß rutschte auf dem Gras aus, und er taumelte zur Seite. Mit heftig rudernden Armen kämpfte er um sein Gleichgewicht und fluchte laut. Er drehte sich um und erblickte einen Pfarrer mittleren Alters in einer Soutane und mit einem Messingkreuz um den Hals. Der wirkte genauso bestürzt wie Nightingale. » Sie haben mir einen Todesschreck eingejagt«, sagte Nightingale und klopfte sich auf die Brust.
    » Es tut mir leid«, gab der Pfarrer zurück. » Ich dachte, Sie hätten mich über den Weg kommen hören. Ich bin eigentlich nicht auf Zehenspitzen

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