Hoellennacht
Wirtschaftswissenschaftler, den Sky wieder mal angeschleppt hatte, sagte, dass die Dinge noch schlimmer werden würden, bevor die Wende zum Besseren käme.
Als Nightingale gegessen hatte, saß er da, die Füße auf den Couchtisch gelegt, und zappte durch hundert Kabelkanäle, fand aber nichts, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Er schaltete den Fernseher aus und starrte auf das Sideboard. Dort standen ein Dutzend Fotos in unterschiedlich großen Rahmen. Unter anderem ein Foto von seiner Graduierungsfeier, auf dem er einen Talar und ein Barett trug, eine Aufnahme von der Abschlussfeier am Hendon Police College, ein Bild von Robbie und Anna Hoyle an ihrem Hochzeitstag, und rechts davon in einer kleinen Gruppe drei Fotos seiner Eltern. Er betrachtete die Familienbilder. Das mittlere war ein Hochzeitsfoto. Seine Mutter, ganz in Weiß, hielt einen Blütenzweig, und sein Vater in einem grauen Anzug hatte ihr den Arm um die Taille gelegt. Er war zweiunddreißig, als sie geheiratet hatten, und Nightingales Mutter war gerade fünfundzwanzig geworden. Sie war hübsch, hatte lockiges, schwarzes Haar und grüne Augen, was eine irische Abstammung nahelegte, und ein paar Sommersprossen auf der Himmelfahrtsnase. Sie lächelte ihren Mann genauso an, wie Nightingale es seine ganze Kindheit hindurch immer wieder bei ihr gesehen hatte. Es hatte nie den geringsten Zweifel gegeben, dass sie ihn von ganzem Herzen geliebt hatte. Das Foto rechts davon war kleiner und hatte einen silbernen Rahmen. Es war das erste Foto von Nightingale als Baby. In eine weiche, weiße Decke gehüllt, lag er mit roten Wangen und geschlossenen Augen im Arm seiner Mutter, die wiederum von seinem Vater gehalten wurde. Beide blickten voll Liebe und Stolz auf ihn hinunter.
Das war, wie Nightingale jetzt bewusst wurde, der Anfang der Lüge gewesen. Er war gar nicht ihr Kind: Er war ihnen gegeben worden. An dem Tag, an dem dieses Foto geschossen worden war, waren sie Fremde für ihn gewesen, die keinerlei Beziehung zu ihm hatten; es gab keine familiären Bande, keine gemeinsame DNA . Sie waren einfach nur ein Mann und eine Frau gewesen, denen man ein Baby gegeben hatte. Das Kind, das sie im Arm hielten, kam einfach irgendwoher. Alles, was nach diesem Tag mit Nightingale geschehen war, alles, was er geworden war, beruhte auf einer Lüge.
Das dritte Foto war vor Old Trafford, dem Fußballstadion von Manchester United, aufgenommen worden. Nightingale war damals zwölf und stand zwischen seinem Vater und seinem Onkel. Alle drei trugen rot-weiße Schals. Sie waren auf dem Weg zu ihren Stehplätzen. Das war ein paar Jahre vor dem Umbau des Stadions gewesen, nach dem es nur noch Sitzplätze gab, aber Nightingales Vater hatte Fußball immer am liebsten im Stehen geschaut. Ein anderer Fan hatte das Foto mit einer Kamera geschossen, die Nightingale im Jahr davor von seinem Vater zu Weihnachten bekommen hatte.
Nightingale starrte das Foto an. Sein Onkel musste Bescheid gewusst haben. Der gute, alte Onkel Tommy. Onkel Tommy, der stets gelacht und gescherzt hatte und der an Geburtstagen und an Weihnachten immer mit einem Geschenk und einer Glückwunschkarte aufgetaucht war und ihn fest in den Arm genommen hatte. Am Tag, als Nightingale zur Universität aufgebrochen war, hatte der Onkel ihm einen Umschlag mit tausend Pfund zugesteckt. Der gute, alte Onkel Tommy, der von Anfang an über die Lüge Bescheid gewusst haben musste. Und Tante Linda. Die beiden mussten es gewusst haben, denn sie hatten ja gewiss gesehen, dass Nightingales Mutter nicht schwanger gewesen war und dass das Baby aus dem Nichts aufgetaucht war– aber sie hatten nie etwas verraten, nicht einmal bei der Beerdigung. Natürlich waren sie damals da gewesen, sie hatten Nightingale zwischen sich genommen, als die Särge ins Grab hinuntergelassen wurden. Aber keiner der beiden hatte je etwas darüber gesagt, dass er adoptiert worden war, weder damals noch später.
Er betrachtete das Foto der drei Fußballfans. Ein Vater, sein Sohn und der Onkel. Nur dass Jack Nighingale nicht Bill Nightingales Sohn war und Tommy nicht sein Onkel. Bis Nightingale die Wahrheit herausfand, würde er die Bilder nie wieder so anschauen können wie früher.
23
Nightingale parkte den MGB auf der Straße vor dem Haus seines Onkels, einer schmucken Doppelhaushälfte mit vier Zimmern in einer gepflegten Mittelschichtgegend der Stadt Altincham südlich von Manchester. Für den Weg von London hatte er fast drei Stunden gebraucht. Er stieg
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