Hoellennacht
Anna, » aber er hat immer gesagt, wenn man sein Testament schreibt, führt man das Schicksal in Versuchung, und er hätte nicht die Absicht…«
Ihre Stimme versagte, und sie putzte sich die Nase. » Der dumme, dumme Kerl«, sagte sie. Sie berührte Nightingale am Arm. » Ich muss mich wieder um Sarah kümmern. Sie ist so ruhig, so gefasst, so vernünftig, aber ich glaube nicht, dass sie es schon richtig begriffen hat.«
» Sie steht unter Schock«, sagte Jenny. » Das geht uns allen so.«
Anna ging zur Couch zurück und setzte sich zu ihrer Tochter. Sarah ergriff die Hand ihrer Mutter, und ihre Unterlippe zitterte.
» Ich kann kaum glauben, dass das alles Wirklichkeit ist«, sagte Jenny. » Immer wieder denke ich, gleich wache ich auf– es fühlt sich einfach nicht real an.«
» Siehst du irgendwo einen Whisky? Ich brauche einen Drink.«
» Jack…«
» Komm schon, Robbie würde das verstehen«, sagte er. » Wenn es mich getroffen hätte, würde ich von ihm erwarten, dass er sich einen Drink genehmigt.« Er lächelte wehmütig. » Aber andererseits, wenn es mich getroffen hätte, wären nicht so viele Leute da, die um mich trauern.« Er wies mit einem Nicken auf den Superintendent. » Zum Beispiel wäre schon mal der verdammte Chalmers nicht da.«
» Es ist gut, dass er gekommen ist, Jack«, sagte Jenny.
» Er konnte Robbie nicht ausstehen. Und umgekehrt.«
» Was sein Kommen nur umso anständiger macht«, sagte Jenny.
» Ja, kann sein«, gab er zu.
Marie tauchte neben Jenny auf. » Hättet ihr gerne einen Kaffee oder einen Tee?«, fragte sie.
» Bitte einen Kaffee«, sagte Jenny.
» Für mich auch«, sagte Nightingale.
» Ich kippe dir noch einen Schluck was anderes dazu, Jack, oder? Vielleicht einen Brandy? Oder einen Whisky?«
» Du kannst wohl Gedanken lesen, Marie, danke. Whisky wäre toll.«
» Das hat mit Gedankenlesen nichts zu tun«, gab sie zurück. » Jeder Polizist hier im Zimmer hat Brandy oder Whisky in seinem Kaffee. Sogar der Superintendent da drüben.«
Jenny lächelte Nightingale zu, als Marie sich in die Küche aufmachte. » Sieht du, Jack? Er ist doch menschlich.«
36
» Wann hast du zuletzt etwas gegessen«, fragte Jenny, als sie zu Nightingales MGB gingen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber auf der Straße waren noch Pfützen. Sie waren beinahe zwei Stunden in Annas Haus geblieben, und in dieser Zeit waren mehr als hundert Polizeibeamte zum Kondolieren vorbeigekommen. Die Kollegen hatten Robbie Hoyle gemocht, aber selbst wenn er der unbeliebteste Mann der Metropolitan Police gewesen wäre, wären sie trotzdem gekommen. Polizeibeamte waren wie eine große Familie und schlossen immer die Reihen, wenn einer der ihren starb.
» Zählt Whisky als Nahrungsmittel?«, fragte Nightingale.
» Nein«, antwortete Jenny.
» Dann gestern.«
» Du hast nicht gefrühstückt?«
» Wer frühstückt denn heutzutage noch?«, fragte Nightingale. » Dazu hat doch keiner die Zeit.«
Jenny hakte sich bei ihm ein. » Los, komm, lass uns was essen gehen«, sagte sie. » Ich lade dich ein.«
» Du lädst mich ein? Bezahle ich dir zu viel Lohn?«
» Du hast mir diesen Monat noch überhaupt nichts bezahlt.« Sie lachte. » Wie klingt chinesisch?«
» Wenn du bezahlst, essen wir, was immer du willst«, antwortete er.
Nightingale fuhr nordwärts nach London. Jenny kannte ein chinesisches Restaurant in der Nähe ihrer Wohnung in Chelsea, wo man sie wie eine seit langem vermisste Verwandte begrüßte. Nightingale bat sie zu bestellen, und das erledigte sie zu seiner großen Überraschung in einer Sprache, die wie halbwegs fließendes Kantonesisch klang. » Ich wusste gar nicht, dass du Chinesisch sprichst«, sagte er.
» Manchmal frage ich mich, ob du auch nur einen einzigenBlick auf meinen Lebenslauf geworfen hast«, sagte sie. » Dort steht, dass ich als Kind vier Jahre in Hongkong gelebt habe.«
» Tja, so weit bin ich wahrscheinlich nicht gekommen«, meinte Nightingale. » Du hattest Steno und Tippen angegeben, und du hattest eine gute Telefonstimme.«
Zwei Tsingtao-Biere kamen. » Das meine ich ernst, Jack. Manchmal bist du ein bisschen arg egozentrisch.«
» Ich bin alles, was ich habe«, gab Nightingale zurück. » Das kommt wohl daher, dass meine Eltern gestorben sind, als ich noch ein Teenager war.«
» Vielleicht, aber du solltest versuchen, dich mehr zu öffnen.«
Er prostete ihr zu. » Okay, mach ich.«
» Nein, tust du bestimmt nicht.« Sie stieß mit ihm an.
» Ich werde
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