Hoellennacht
dann am Nachmittag. Falls es etwas Wichtiges gibt, bin ich per Handy zu erreichen.« Er beendete den Anruf mit einem plötzlichen schlechten Gewissen. Er belog Jenny nicht gerne, aber wenn er ihr sagte, was er wirklich vorhatte, würde sie sich nur Sorgen machen. Nightingale hatte es immer vorgezogen, Fragen zu stellen, statt welche zu beantworten.
Er rasierte sich, duschte und zog ein sauberes Hemd und einen dunkelblauen Anzug an, der gerade von der Reinigung zurückgekommen war. Anschließend kochte er sich einen schwarzen Kaffee, rauchte eine Marlboro und fuhr dann nach Hammersmith.
O’Brien wohnte in einem Reihenhaus; davor parkte ein schwarzes Taxi. Nightingale fand etwa fünfzig Meter weiter einen Parkplatz für den MGB . Er stieg aus und ging zum Taxi. Vorne war kein Schaden zu sehen, kein Blut, nicht einmal ein Kratzer– nichts wies darauf hin, dass das Fahrzeug Robbie Hoyles Leben beendet hatte. Das überraschte Nightingale nicht. Ein Londoner Taxi wog mehr als 1,6 Tonnen, und ein menschlicher Körper hatte dieser Stahlmasse nichts entgegenzusetzen.
Eine Hausfrau mittleren Alters ging vorbei, einen weißen Pudel an der Leine. Sie hielt ein zerknülltes Plastiktütchen in der Hand und redete dem Tier gut zu, sein Geschäft zu machen. Nightingale warf ihr ein Lächeln zu, und sie starrte wütend zurück, als wäre er ein Kinderschänder.
Eine Treppe mit einem halben Dutzend Stufen führte zu O’Briens Haustür hinauf. Nightingale drückte die Klingel und hörte, wie sie im Flur summte. Er ging auf den Bürgersteig zurück und blickte zu den Schlafzimmerfenstern hinauf. Die Vorhänge waren vorgezogen. Nightingale fragte sich, ob O’Brien nachts gearbeitet hatte und jetzt schlief. Er klingelte noch einmal. Als niemand aufmachte, nahm er sein Handy heraus und wählte die Nummer, die er von der Auskunft bekommen hatte. Er hörte, wie das Telefon im Haus läutete, ließ es volle dreißig Sekunden klingeln, beendete dann den Anruf und steckte sein Handy wieder ein.
Er stand auf dem Bürgersteig und überlegte, was er tun sollte. Wenn O’Brien noch schlief, würde er irgendwann zur Tür kommen. Ganz offensichtlich arbeitete er nicht, da sein Taxi auf der Straße stand. Vielleicht machte er aber auch den Tag frei und war ohne Taxi irgendwo unterwegs. In diesem Fall verschwendete Nightingale hier seine Zeit.
Er ging wieder die Treppe hinauf. Mitten in der Tür war ein Briefkastenschlitz. Er stieß ihn auf und bückte sich, um hindurchzurufen. » Mr. O’Brien?« Die Tür bewegte sich. Nightingale runzelte die Stirn. Er richtete sich auf und öffnete die Tür.
Auf dem Teppich lagen ein halbes Dutzend Umschläge, überwiegend Rechnungen, und mehrere aufdringliche Reklamezettel. Nightingale trat ein. » Mr. O’Brien? Sind Sie da?« Eine Antwort blieb aus, aber Nightingale hörte ein leises Summen, wie ein Trafobrummen, das von oben kam. Nichts Gutes ahnend, schloss er die Tür. Er wusste, dass er nicht in dem Haus sein sollte, aber er wusste ebenfalls, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. In London ließ man seine Haustür nicht offen. Er ging durch den Flur und sah ins Wohnzimmer und in die Küche. In der Spüle stand schmutziges Geschirr und auf der Abtropffläche eine halb leere Tasse Kaffee. Er fasste den Wasserkessel an. Kalt.
Er ging in den Flur zurück. » Mr. O’Brien? Sind Sie oben?« Eine große Schmeißfliege umsummte seinen Kopf, und er wedelte sie weg. Er ging die Treppe hoch und spähte dabei zum Treppenabsatz hinauf. » Mr. O’Brien, ist alles in Ordnung?«
Das Summen wurde lauter. Noch zwei große Fliegen umschwirrten Nightingales Kopf. Als er oben ankam, sah er, dass die Badezimmertür offen stand. An der Wand neben dem Lichtschalter hockten ein halbes Dutzend Fliegen, und als er näher kam, flogen noch mehr durch die geöffnete Tür nach draußen. Das Summen klang jetzt viel lauter, wie bei einem kaputten Sicherungskasten.
Es lag ein unangenehmer Geruch in der Luft, eine Ausdünstung, der Nightingale in seiner Zeit als Polizist oft begegnet war, ein Geruch, der schwer zu beschreiben war, den man aber nie wieder vergaß. Noch bevor er die Badezimmertür aufstieß, wusste Nightingale, was er finden würde.
Der Mann hatte mindestens einen Tag im Wasser gelegen, wahrscheinlich länger, und der Leib war bereits teilweise aufgedunsen. In beiden Armen waren tiefe Schnitte, und die schrecklichen Wunden wimmelten von Fliegen. Die waren überall, fraßen, legten ihre Eier und umschwirrten
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