Hoellenpforte
reichte. Von dort, wo ich stand, hoch auf dem Hügel, konnte ich Tausende Dächer sehen, die sich bis zum Horizont erstreckten, vielleicht zwanzig Kilometer weit, aber ich hatte den Eindruck, dass dahinter noch viel mehr waren.
Es war unmöglich, zu sagen, ob die Stadt alt oder modern war. Irgendwie war sie beides zugleich. Manche der Gebäude, deren Ziegel aussahen wie Silber oder Zink, glichen riesigen Kathedralen mit Bogenfenstern und Kuppeln. Andere Bauwerke waren aus Stahl und Glas und erinnerten mich an Flughafengebäude. Erst da wurde mir klar, dass es tatsächlich Dutzende davon gab und dass sie alle identisch waren und um Innenhöfe angeordnet wie Speichen um eine Nabe. In regelmäßigen Abständen ragten Türme heraus, auch sie mit silbernen Dächern. Alles war verbunden, entweder durch Wendeltreppen oder überdachte Gänge.
Es gab keine Parks und keine Bäume. Keine Autos und keine Menschen. Genau genommen war das, worauf ich hinuntersah, gar keine Stadt. Diese riesige Konstruktion war ein einziges Gebäude: eine gigantische Kathedrale, ein gigantisches Museum, ein gigantisches – Etwas. Es war ein Mischmasch der verschiedensten Stilrichtungen. Anscheinend waren manche Teile Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende später gebaut worden als andere, aber sie waren alle miteinander verbunden. Sie waren eins. Ich konnte nicht erkennen, wo das Zentrum war. Ich konnte auch nicht sehen, wo es einmal begonnen hatte. Ich hatte auch keine Ahnung, wie es entstanden sein mochte. Es war, als hätte jemand ein einzelnes Saatkorn – einen Ziegelstein - genommen und in einen blubbernden Sumpf fallen lassen. Und nach vielen Tausend Jahren des Wachstums war dies das Ergebnis.
Ich ließ die Plattform hinter mir und ging auf der anderen Seite den Hügel hinunter auf die äußere Mauer zu. Eine Straße, deren Oberfläche aussah wie Marmor, führte mich auf einen großen Torbogen zu, hinter dem sich eine offene Tür befand. Die Luft war vollkommen still. Ich konnte mein eigenes Herz schlagen hören. Ich hatte nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein, aber dieser Ort war so merkwürdig, so anders als alles, was ich je gesehen hatte, dass mir doch ein wenig mulmig zumute war. Trotzdem zögerte ich nicht. Ich ging durch den Bogen und war plötzlich in einem langen Korridor mit einem glänzenden Fliesenboden und einer von Pfeilern gestützten Gewölbedecke. Es war nicht ganz wie in einer Kirche und auch nicht ganz wie in einem Museum, aber es erinnerte mich an beides.
»Kann ich dir helfen?«
Noch ein Schock. Ich war nicht allein. Und die Frage war so normal, so höflich, dass sie einfach nicht an diesen außergewöhnlichen Ort zu passen schien.
Ein Mann stand hinter einem Rednerpult. Er war ziemlich klein, ein paar Zentimeter kleiner als ich, und er hatte eines von diesen Gesichtern… Ich würde nicht sagen, dass es aus Stein gemeißelt war, dazu wirkte es zu warm und menschlich, aber irgendwie schien es Jahrhunderte alt und von der Zeit und Erfahrungen gezeichnet.
So wie er aussah, vermutete ich, dass er Araber war, ein Angehöriger eines Wüstenstammes, allerdings ohne typische Dinge wie das Tuch auf dem Kopf, den weiten Umhang oder einen Dolch. Stattdessen trug er eine lange seidene Jacke – verblichenes Lila mit Silber – mit einer großen Tasche auf jeder Seite und eine weite weiße Hose. Ein Bart hätte ihm gut gestanden, aber er hatte keinen. Sein Haar war stahlgrau. Seine Augen hatten die gleiche Farbe und sie betrachteten mich höflich und zugleich amüsiert.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte ich.
»Das hier?« Meine Frage schien den Mann zu überraschen. »Das ist die große Bibliothek. Es ist sehr schön, dich wiederzusehen.«
Eine Bibliothek. Mir fiel etwas wieder ein, was Jamie erzählt hatte. Als er Scarlett am Scathack Hill getroffen hatte, hatte sie den Besuch einer Bibliothek erwähnt.
»Wir sind uns nie begegnet.«
»Ich denke doch.« Der Mann lächelte mich an. Ich weiß nicht, welche Sprache er sprach, denn in der Traumwelt sind alle Sprachen gleich und die Leute können einander verstehen, egal woher sie kommen. »Du bist Matthew Freeman. Zumindest nennst du dich so. Du bist einer der Torhüter. Der erste von ihnen, um genau zu sein.«
»Haben Sie einen Namen?«
»Nein. Ich bin nur der Bibliothekar.«
»Ich suche nach Scarlett«, sagte ich. »Scarlett Adams. Ist sie hier gewesen?«
»Scarlett Adams? Scarlett Adams? Du meinst… Scar! Aber ja, sie war hier. Aber das ist schon lange her. Jetzt
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