Hoellenpforte
verschlechtert. Sie war schon zweimal wegen Unaufmerksamkeit im Unterricht verwarnt worden und dann war da noch die grauenvolle Mathearbeit. Ihre Lehrer waren mittlerweile davon überzeugt, dass ihr ihre Berühmtheit zu Kopf gestiegen war, und Scarlett rechnete fest damit, dass Mrs Ridgewell ihr eine Moralpredigt halten würde. Reiß dich zusammen. Gib dir mehr Mühe. Etwas in dieser Art.
Aber was die Schulleiterin zu ihr sagte, traf sie vollkommen unvorbereitet.
»Scarlett, ich fürchte, du wirst uns für ein paar Wochen verlassen. Ich bekam gerade einen Anruf von deinem Vater. Offenbar gibt es da eine Krise…«
»Was für eine Krise?«, fragte Scarlett.
»Das hat er nicht gesagt. Aber er möchte, dass du so schnell
wie möglich zu ihm nach Hongkong kommst. Er hat bereits einen Flug für dich gebucht.«
Einen Moment herrschte Schweigen, während Scarlett diese Neuigkeit verarbeitete. Sie hatte alle möglichen Fragen, stellte aber nur die naheliegendste. »Hat das etwas mit dem zu tun, was mir passiert ist?«
»Das glaube ich nicht.«
»Was ist dann der Grund?«
»Das hat er nicht gesagt.« Mrs Ridgewell seufzte. Sie unterrichtete seit mehr als zwanzig Jahren an dieser Schule und man sah es ihr an. Ihr Büro war unordentlich und ein bisschen schäbig, mit antiken Möbeln und Büchern überall. Eine Siamkatze – ihr Name war Chaucer – schlief in einem Korb in der Ecke. »Du hattest kein besonders gutes Halbjahr, nicht wahr, Scarlett?«
»Nein.« Scarlett schüttelte betrübt den Kopf. »Es tut mir leid, Mrs Ridgewell. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. In letzter Zeit geht einfach alles schief.«
»Nun, vielleicht solltest du es positiv sehen. Womöglich sind ein paar Wochen Pause genau das, was du jetzt brauchst. Ich werde deine Lehrer bitten, ein paar Aufgaben für dich vorzubereiten – und natürlich müssen wir auch die Weihnachtsaufführung neu besetzen. Ich muss leider sagen, dass das Ganze sehr ungelegen kommt.«
»Hat mein Vater denn gar nichts gesagt?«
»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Ich dachte, er hätte es bereits mit dir besprochen.«
»Nein. Ich habe nichts von ihm gehört.«
»Nun, ich bin sicher, dass kein Grund zur Besorgnis besteht. Er sagte, dass er dich heute Abend anrufen würde. Dir bleibt also noch Zeit, dich von deinen Freunden zu verabschieden.«
»Wann fliege ich?«
»Morgen.«
Morgen! Scarlett konnte kaum fassen, was sie da hörte. Bis morgen waren es doch nur noch ein paar Stunden! Wie konnte ihr Dad ihr das antun? Er hatte nichts davon erwähnt, als sie in dem italienischen Restaurant gewesen waren. Was für eine Krise sollte das sein, die in nur einer Woche entstanden war?
Scarlett war den Rest des Tages wie vor den Kopf geschlagen. Ihre Freunde waren genauso überrascht wie sie, doch die Wahrheit war, dass sie sich mittlerweile einen gewissen Ruf erworben hatte. Sie war merkwürdig. Erst die Sache in der Kirche und nun das.
Sie konnte sich nicht mal von Aidan verabschieden. Sie hielt auf dem Heimweg Ausschau nach ihm und schickte ihm eine SMS, aber er antwortete nicht. Mrs Murdoch wusste schon Bescheid und hatte bereits mit dem Packen begonnen, als Scarlett nach Hause kam. Sehr erfreut war sie nicht.
»Nicht die geringste Vorwarnung«, knurrte sie. »Und keine Erklärung. Und was soll ich machen, wenn ich hier ganz allein herumsitze?«
Paul Adams rief wie versprochen am Abend an, erzählte Scarlett aber nicht, was sie wirklich wissen wollte.
»Es tut mir wirklich leid, Scarly…« Seine Stimme am Telefon klang dünn und sehr weit entfernt. »Ich tue dir das wirklich nur sehr ungern an. Aber es sind Dinge geschehen… Ich erkläre dir alles, wenn du hier bist.«
»Aber du musst es mir sagen!«, protestierte Scarlett. »Geht es Mum gut? Ist etwas mit dir?«
»Uns fehlt nichts. Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Es gibt nur einfach Zeiten, in denen eine Familie zusammen sein muss, und dies ist eine davon.«
»Wie lange werde ich bei dir bleiben?«
»Ein paar Wochen. Vielleicht länger.«
»Warum?« Vom anderen Ende der Leitung kam nur Schweigen. »Kannst du mir denn gar nichts sagen?«, bohrte Scarlett weiter. »Das ist nicht fair. Es ist mitten im Schuljahr, ich werde die Aufführung und alle Partys und alles andere verpassen!«
»Hör zu, ich bitte dich einfach, mir zu vertrauen. Du wirst in vierundzwanzig Stunden hier sein und ich möchte dir alles von Angesicht zu Angesicht erklären und nicht übers
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