Hoellenpforte
Chinesin und nur halb so groß wie der Chauffeur. Ihr schwarzes Haar hing schlaff herunter und ihre dicke, plastikgerahmte Brille hätte ihr Gesicht nicht einmal dann vorteilhaft betont, wenn es da etwas zu betonen gegeben hätte. Bei ihrem Anblick musste Scarlett an eine Gefängniswärterin denken. Es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Vierzig? Fünfzig? Sie sah nicht aus, als wäre sie jemals jung gewesen.
Scarlett ging auf sie zu.
»Guten Morgen, Scarlett«, sagte die Frau. »Willkommen in Hongkong. Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug.«
»Wer sind Sie?«, fragte Scarlett, die nicht die geringste Lust hatte, höflich zu sein.
Die Frau schien es nicht zu stören. »Ich bin Mrs Cheng«, sagte sie. »Aber du kannst mich Audrey nennen. Das ist Karl.« Der Mann im Anzug senkte kurz den Kopf. »Sollen wir zum Wagen gehen?«
»Wo ist mein Vater?«, wollte Scarlett wissen.
»Er konnte leider nicht kommen.«
»Wo ist er?«
»Ich erkläre es dir im Wagen.«
Ihr Begleiter Justin hatte sich diesen Wortwechsel mit wachsender Besorgnis angehört. Es war seine Aufgabe, Scarlett der richtigen Person zu übergeben, was hier offensichtlich nicht der Fall war. »Entschuldigen Sie«, unterbrach er und sah Scarlett an. »Kennst du diese Leute?«
»Nein«, antwortete Scarlett.
»Dann finde ich, dass du nicht mit ihnen gehen solltest.« Er drehte sich wieder zu der Frau um. »Entschuldigen Sie, Mrs Cheng«, fuhr er fort. »Mir wurde gesagt, dass ich dieses Mädchen seinem Vater übergeben soll. Und ich bin nicht sicher – «
»Das ist doch lächerlich«, fiel ihm Mrs Cheng ins Wort. »Es ist doch wohl deutlich zu sehen, dass wir auf Scarlett gewartet haben. Wir arbeiten beide für die Nightrise Corporation und sind von ihrem Vater hergeschickt worden, um sie abzuholen.«
»Es tut mir leid. Sie kennt Sie nicht und im Moment bin ich für sie verantwortlich. Ich muss Sie daher bitten, mich an den Schalter zu begleiten und mit meinem Vorgesetzten zu sprechen.«
Scarlett war es ein wenig peinlich, wie sich die Erwachsenen um sie stritten, und das auch noch in aller Öffentlichkeit. Die Chinesin atmete schwer. Auf ihren Wangen breiteten sich rote Flecken aus. Sie kämpfte offensichtlich um ihre Beherrschung. Plötzlich zischte sie einen Befehl, so leise, dass es kaum zu hören war. Der Chauffeur Karl trat schwerfällig vor.
»Jetzt warten Sie mal…«, begann Justin.
Es sah aus, als würde Karl ihn niederschlagen wollen. Stattdessen legte er Justin einfach eine Hand auf die Schulter. Seine langen schwarzen Finger lagen am Hals von Scarletts Begleiter. Er war nicht gewalttätig. Er beugte sich einfach vor, bis seine Augen auf gleicher Höhe mit denen von Justin waren.
Und Justin gab nach.
»Sie spielen sich wirklich ganz unnötig auf«, sagte Mrs Cheng.
»Ja…« Er brachte das Wort kaum heraus.
»Warum rufen Sie nicht bei Nightrise an, sobald die Büros besetzt sind? Dort werden Sie alles erfahren, was Sie wissen müssen.«
»Das ist nicht nötig. Natürlich kann das Mädchen mit Ihnen gehen.«
»Lass ihn los, Karl.«
Karl nahm die Hand von seiner Schulter. Justin schwankte hin und her, dann machte er kehrt und ging davon. Es war, als hätte er Scarlett schon vergessen. Als wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben.
»Lass uns fahren, Scarlett. Wir haben hier genug Zeit verschwendet.«
Scarlett nahm ihren Koffer und folgte Karl und Mrs Cheng eine Rolltreppe hinunter. Eine Schiebetür führte auf eine private Zufahrt, in der diverse teure Limousinen auf ihre Fahrgäste warteten. Karl nahm ihr das Gepäck ab und legte es in den Kofferraum. Mrs Cheng hatte inzwischen die Tür geöffnet und Scarlett auf den Rücksitz geschoben.
»Wohin fahren wir?«, fragte Scarlett.
»Wir bringen dich in die Wohnung deines Vaters.«
»Ist er da?«
»Nein.« Audrey Cheng sprach Englisch wie viele Chinesen. Sie schnitt die Worte ab, als würde sie sie mit einer Schere bearbeiten. »Dein Vater musste auf eine Geschäftsreise.«
»Aber das kann nicht sein! Er hat mich extra aus der Schule genommen. Er hat mich den ganzen Weg herfliegen lassen.«
»Er hat dir einen Brief geschrieben, der alles erklärt.«
Sie hatten das Flughafengelände verlassen. Karl fuhr über eine Brücke, die nagelneu aussah und deren Stahlkabel an ein riesiges Spinnennetz erinnerten. Der Flughafen lag auf einer Insel, einer von mehreren rund um Hongkong.
Am Stadtrand angekommen, sah Scarlett die ersten Hochhäuser, fünf gigantische Wolkenkratzer
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