Hoellenpforte
wahrscheinlich waren noch nicht viele internationale Flüge gelandet. Trotzdem hatte Scarlett ein komisches Gefühl. Sie musterte die Leute, die mit ihr auf Rollbändern durch die breiten silbergrauen Gänge befördert wurden. Die anderen Passagiere sahen mehr tot als lebendig aus, mit verquollenen Augen und blasser Haut. Niemand schien sich darüber zu freuen, endlich angekommen zu sein.
Und noch etwas fiel ihr auf. Alle Leute gingen in dieselbe Richtung. Alle strebten ins Hauptgebäude. Es kamen Leute in Hongkong an, aber zumindest an diesem Morgen schien niemand abzureisen.
An der Passkontrolle stellten sie sich in die Schlange, die sich vor einer Reihe flacher Glaskabinen gebildet hatte, in denen Beamte in schwarz-silbernen Uniformen auf niedrigen Stühlen saßen. Scarlett fand, dass sie alle gleich aussahen – klein, mit braunen Augen und stacheligen schwarzen Haaren. Diesen Gedanken verdrängte sie aber gleich wieder, weil sie nicht rassistisch sein wollte.
Irgendwann war sie an der Reihe. Der Beamte, der ihren Pass und ihre Zollerklärung entgegennahm, war jung und höflich. Er schlug den Pass auf und überflog ihre Daten. Gleichzeitig schwenkte eine Überwachungskamera direkt über ihm in ihre Richtung und musterte sie. Es war irgendwie unheimlich, wie lautlos sie sich bewegte und sie gezielt aus dem Rest der Menge herauspickte.
»Scarlett Adams.« Der Beamte sagte ihren Namen und lächelte. Er wartete nicht darauf, dass sie ihre Identität bestätigte. Er las den Namen einfach vom Pass ab, als würde er nicht recht verstehen, was er bedeutete. Dann griff er nach einem Stempel und knallte ihn in ihren Pass.
Und genau in diesem Moment veränderte er sich. Geschah das wirklich oder spielte ihr Gehirn ihr nach dem langen Flug einen Streich? Es waren seine Augen. Als der Stempel aufschlug, schienen sie zu flackern, als hätte jemand Rauch über sie geblasen, und plötzlich waren sie gelb. Die Pupillen hatten die Form von Diamanten. Der Beamte schaute zu ihr auf und lächelte und für einen Augenblick hatte sie furchtbare Angst, dass er aus seiner Kabine springen und sich auf sie stürzen würde. Seine Augen waren nicht mehr menschlich. Es waren die Augen eines Krokodils.
Scarlett keuchte vor Schreck. Sie konnte es nicht verhindern. Wie gelähmt starrte sie den Mann vor sich an. Ihrem Begleiter, der neben ihr stand, war nichts aufgefallen. Niemand anders hatte reagiert. In der Kabine nebenan wurde ein anderer Pass gestempelt, und als Scarlett hinsah, war gerade ein Student mit einem Rucksack abgefertigt worden. Dann schaute sie zurück zu ihrem Beamten und es war vorbei. Er sah wieder ganz normal aus und hielt ihr den Pass entgegen. Sie zögerte und schnappte dann danach, denn sie wollte auf keinen Fall auch nur seine Fingerspitzen berühren, weil sie insgeheim damit rechnete, dass sie sich in Klauen verwandelten.
»Jetzt holen wir dein Gepäck«, sagte Justin.
»Ja…«
Er sah sie neugierig an. »Alles in Ordnung, Scarlett?« »Ja.« Sie nickte. »Alles bestens.«
Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis die Koffer kamen.
Scarletts Sachen waren bei der ersten Ladung. Justin trug ihren Koffer und die beiden gingen durch die Zollkontrolle, die nicht besetzt war. Wahrscheinlich machte sich niemand die Mühe, etwas nach Hongkong hineinzuschmuggeln. Die Ankunftshalle lag direkt vor ihnen und Scarlett beschleunigte ihre Schritte. Trotz allem freute sie sich darauf, ihren Vater wiederzusehen.
Er war nicht da.
Auf der anderen Seite der Sperre warteten ungefähr hundert Leute, viele von ihnen in Chauffeur-Uniformen, von denen einige Namensschilder hochhielten. Sie sah ihren eigenen Namen fast sofort. Ein schwarzer Mann in einem Anzug hielt das Schild hoch. Er war groß und hatte eine Glatze und sein Gesicht war so ausdruckslos, als wäre es aus Stein gemeißelt. Irgendwie passte er nicht nach Hongkong. Es war nicht nur seine Hautfarbe. Es war seine Größe. Er überragte alle anderen und starrte mit leerem Blick über die Menge hinweg, als wäre er lieber woanders.
Neben ihm stand eine Frau, die Scarlett auf den ersten Blick nicht leiden konnte. War sie überhaupt eine Frau? Zumindest trug sie Frauenkleider, ein graues Kleid, einen Anorak und kniehohe Stiefel mit Fellrand. Aber ihr Gesicht und ihr Körperbau glichen denen eines Mannes. Sie hatte breite, eckige Schultern. Ihr Hals war kurz und breit. Sie war ungeschminkt, obwohl sie dringend Make-up gebraucht hätte. Ihre Haut sah aus wie altes Leder. Sie war
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