Hoellenpforte
Süd-Chinesische Agrar-Reform? Scampi auf Reis? Aber dann materialisierten sich von der rechten Seite des Bildschirms vier weitere Buchstaben.
LETT
Das war keine Abkürzung. Das war sie. Scarlett. Die zwei Schriftblocks bildeten ihren Namen und blinkten jetzt, als wollten sie ihre Aufmerksamkeit erregen. Scarlett stand am Fenster und glaubte nicht recht, was sie sah. Versuchte wirklich jemand, ihr über einen Bildschirm an einem Gebäude eine Nachricht zu schicken?
Ein paar Sekunden später änderte sich das Bild. Jetzt war die Schrift weiß und die Botschaft lautete:
S 70
Scarlett verstand nichts mehr. Vielleicht war sie doch nicht gemeint. Was sollte das bedeuten? S 70 – sollte das ein Stadtteil sein, eine Abkürzung für Süd 70? Oder stand das S für Scarlett?
Aber was hatte dann die 70 zu bedeuten?
Scarlett hoffte, dass sich der Bildschirm noch einmal verändern und ihr noch mehr sagen würde – aber es kam nichts mehr.
Die Nachricht war wie eingefroren. Und dann wurde der Bildschirm plötzlich schwarz, als hätte ihn jemand abgeschaltet. Im selben Augenblick hörte sie Polizeisirenen, sehr viele, die auf der anderen Seite des Hafens durch die Straßen von Kaulun heulten. Es klopfte an ihrer Tür.
Scarlett setzte sich schnell auf ihr Bett und nahm eine Zeitschrift in die Hand. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie wollte sich nicht am Fenster erwischen lassen. »Herein!«, rief sie. Die Tür ging auf und Audrey Cheng kam herein. Sie trug einen engen Pulli, der ihre merkwürdig runde und beulige Figur betonte. Das schwarze Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Ihre Augen, vergrößert durch die billige Brille, blickten misstrauisch. »Ich wollte nur nachsehen, ob bei dir alles in Ordnung ist, Scarlett«, sagte sie.
»Ja, danke, mir fehlt nichts«, antwortete Scarlett.
»Gehst du bald ins Bett?«
»In ein paar Minuten.«
»Schlaf gut.« Sie klang freundlich, aber Scarlett bemerkte ihren prüfenden Blick zum Fenster und wusste genau, warum sie gekommen war. Es war die Nachricht. Sie wollte wissen, ob Scarlett sie bekommen hatte.
Und es war eine Nachricht, dessen war sie sich jetzt sicher.
Jemand versuchte, sie zu erreichen, und hatte erkannt, dass dies die einzige Möglichkeit war. Das machte Sinn. Ein Mann hatte versucht, ihr einen Brief zu geben, und war weggezerrt worden. Mrs Cheng und Karl ließen sie nie aus den Augen. Vermutlich hatte es keinen anderen Weg gegeben.
Aber was sollte es bedeuten? Was Rätsel betraf, war Scarlett schon immer ein hoffnungsloser Fall gewesen. Aidan hatte sich immer halb totgelacht, wenn sie versucht hatte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, und beim Schulquiz hatte sie zu den Schlechtesten gehört. S 70. Es hatte offensichtlich nichts mit ihrem Namen zu tun. War es vielleicht eine Adresse, ein Punkt auf einer Karte, ein Autokennzeichen? Sie kehrte zurück ans Fenster und sah hinaus, aber der Bildschirm war immer noch schwarz. Irgendwie bezweifelte sie, dass er noch einmal aufleuchten würde.
Schließlich gab sie es auf, darüber nachzudenken, und ging schlafen – und das war der Moment, in dem ihr der Geistesblitz kam. Vielleicht hatte es geholfen, nicht mehr nachzudenken. S. Das war doch auch die Abkürzung für Seite. Konnte es sein, dass jemand sie auffordern wollte, auf Seite 70 nachzuschauen?
Aber in welchem Buch? Im Zimmer ihres Vaters standen mindestens vierzig oder fünfzig Bücher – allerdings überwiegend Geschichtsbücher, die nichts mit Hongkong zu tun hatten. Sie stieg aus dem Bett und nahm irgendein Buch aus dem Regal. Auf Seite 70 erwartete sie eine faszinierende Beschreibung des Stadtbildes von Paris im neunzehnten Jahrhundert. Sie versuchte es mit einem Wörterbuch, das auf dem Tisch gelegen hatte. Seite 70 begann mit »Bartgeier – aasfressender Vogel« und danach kamen alle möglichen weiteren Wörter mit B. War vielleicht eine Seite im Telefonbuch gemeint? Das wäre doch denkbar, wenn jemand Kontakt zu ihr aufnehmen wollte. Dann fiel es ihr wieder ein. Es gab ein Buch, das sie nicht eingepackt, aber trotzdem in ihrem Koffer gefunden hatte. Der Reiseführer für Hongkong und Macau.
Sie klappte ihren Koffer auf. Sie hatte das Buch nicht einmal herausgenommen – da Mrs Cheng und Karl sie überallhin begleiteten, hatte sie keinen Reiseführer gebraucht. Sie schlug Seite 70 auf und las die Beschreibung von etwas, das Yau Ma Tei hieß – »ein faszinierender Teil von Kaulun«, wie der Text behauptete. »Yau Ma Tei ist
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