Hoellenpforte
einer Reihe lebensgroßer Statuen umgeben waren, die alle einem verrückten Comic entsprungen zu sein schienen: ein alter Mann im Schneidersitz, dessen Bart aus echten Haaren bestand, zwei teuflische Monster, eines leuchtend rot, das andere blau, und beide eher kindisch als bedrohlich. Eines von ihnen weinte, rieb sich die Augen und schnitt seinem Nachbarn eine Grimasse. Das andere stand mit erhobener Hand da, als wollte es den Freund beruhigen. Dann war da noch eine Frau im Stil einer chinesischen Puppe mit einem Geschenk in der Hand und mehr als fünfzig kleinere Figuren, die verschiedene Götter darstellen sollten und aufgereiht auf einem Regal standen. Der Tempel war mit seinen knalligen Farben, den üppig gemusterten Vorhängen, den bunten Lampen und Blumen wirklich etwas fürs Auge. Der Rauch von den vielen brennenden Räucherstäbchen war so dick, dass ein leistungsfähiges Entlüftungssystem eingebaut worden war, das pausenlos vor sich hin brummte.
Scarlett war pünktlich gekommen, aber sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchen sollte. Im Tempel war etwa ein Dutzend Leute, aber die waren alle mit ihren Gebeten beschäftigt und keiner von ihnen sah auch nur in ihre Richtung. War es möglich, dass sie die Nachricht im Reiseführer missverstanden hatte? Aber da hatte doch gestanden, dass sie um fünf Uhr da sein sollte, und jetzt war es schon ein paar Minuten nach fünf. Sie wartete darauf, dass sich jemand näherte und ihr eine weitere Nachricht überbrachte – einer der Gläubigen oder vielleicht ein Tourist. Heimlich hoffte sie sogar, dass womöglich ihr Vater hier war.
Doch es passierte nichts. Niemand kam in ihre Nähe. Scarlett war klar, dass sie nicht mehr lange so tun konnte, als wäre sie vollkommen fasziniert von diesem Tempel. Mrs Cheng sah sie schon jetzt mit wachsendem Misstrauen an. Am Tag zuvor hatte sie kein großes Interesse an Tempeln gezeigt – was war an diesem also so besonders?
»Hast du genug gesehen, Scarlett?«, fragte sie streng.
»Wer ist das?«, fragte Scarlett verzweifelt und zeigte auf eine der Statuen.
»Sein Name ist Kwan Kung. Er ist der Gott des Krieges.« Etwas flackerte tief in ihren Augen auf. »Vielleicht solltest du zu ihm beten.«
»Wieso sagen Sie das, Mrs Cheng?«
»Weil man nie wissen kann, wann ein neuer Krieg ausbricht.«
Scarlett gab es schließlich auf. Sie war so lange geblieben, wie es ging, aber es war offensichtlich, dass niemand kommen würde. Sie war unglaublich enttäuscht. Natürlich hatte die Nachricht nur eine Uhrzeit genannt und nicht den Tag, an dem sie kommen sollte. Es war jedoch höchst unwahrscheinlich, dass es ihr gelang, eine Ausrede für einen weiteren Besuch zu finden, und sich allein aus Wisdom Court herauszuschleichen war unmöglich. Beim Brand des Bürogebäudes am Hafen waren neun Menschen ums Leben gekommen. Vielleicht gehörte derjenige, der ihr die Nachricht geschickt hatte, zu den Opfern.
Es wurde bereits dunkel, als sie den Tempel verließen. Karl saß mit verschränkten Armen auf einer Bank und sah ungefähr so lebendig aus wie die Statuen, die sie gerade gesehen hatten. Auf dem Tempelvorplatz bauten fliegende Händler gerade ihre Verkaufsstände auf. Sehr interessant sahen sie nicht aus – sie boten Socken, Mützen, Lesebrillen und unnützen Kleinkram an – aber sie hatten bereits eine Menschentraube angelockt.
»Können wir uns die Stände ansehen?«, fragte Scarlett.
Der Gedanke war ihr gerade gekommen. Der Absatz im Reiseführer hatte nicht nur den Tin-Hau-Tempel beschrieben, sondern auch den Vorplatz. Vielleicht wartete ihr geheimnisvoller Unbekannter hier auf sie. Mrs Cheng verzog mürrisch das Gesicht, aber Scarlett war schon losgegangen. Sie musste ihr folgen.
Scarlett tat so, als wäre sie sehr interessiert an einem Stand mit billigen Weckern und Armbanduhren. Sie war fest entschlossen, so viel Zeit auf diesem Platz zu verbringen, wie sie nur konnte. Ihr fiel auf, dass am nächsten Stand nichts verkauft wurde. Dort saß eine Frau mit einem Stapel Tarotkarten. Jetzt, wo sie genauer hinsah, erkannte sie, dass mindestens die Hälfte aller Marktstände Wahrsagern gehörte.
Sie ging hinüber zu einem sehr alten Mann, einem Handleser, der auf einem niedrigen Plastikstuhl hockte. Sein Stand war mit einem Banner dekoriert, das eine in mehrere Abschnitte unterteilte menschliche Hand zeigte, von denen jeder mit einem chinesischen Schriftzug versehen war. Er starrte auf die Handfläche eines etwa dreizehnjährigen
Weitere Kostenlose Bücher