Hoellenpforte
Jungen. Seine Augen und Nase waren nur Millimeter von ihr entfernt, als könnte er dort wirklich etwas lesen. Scarlett ging weiter. Einer der nächsten Stände gehörte einer Frau, die ebenfalls die Zukunft voraussagte, allerdings auf eine andere Weise.
Die Frau war klein und dick und hatte lange graue Haare. Sie trug eine rote Seidenjacke, saß an einem Tisch und breitete ein halbes Dutzend Umschläge vor sich aus. An der Seite waren drei Käfige und in jedem saß ein kleiner gelber Vogel – ein Kanarienvogel oder etwas in der Art. Auf der anderen Seite lag eine Matte mit verschiedenen Symbolen, auf der ein Glas mit Körnern stand. Die Frau schien vollkommen in ihre Arbeit vertieft zu sein, aber als Scarlett näher kam, streckte sie plötzlich einen knorrigen Finger aus und tippte damit, ohne aufzuschauen, auf eines der Symbole auf der Matte.
Es war ein fünfzackiger Stern.
Genau so einen hatte Scarlett auf der Tür gesehen, die sie in das Kloster Ruf nach Gnade geführt hatte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, weil Mrs Cheng direkt neben ihr stand, aber sie war plötzlich unheimlich aufgeregt. Pater Gregory zufolge waren die Türen schon vor Jahrhunderten eingerichtet worden, um den Torhütern zu helfen. Sie waren da, um ihr zu helfen. Hatte die alte Frau ihr absichtlich ein Zeichen gegeben? Scarlett sah sie genauer an. Sie schaute immer noch nicht auf, sondern mischte ihre Umschläge und murmelte gelegentlich den Vögeln etwas zu.
Scarlett sah Mrs Cheng fragend an. »Was macht die Frau hier?«
»Sie benutzt die Vögel dazu, die Zukunft vorherzusagen«, erklärte Mrs Cheng.
Die alte Frau hatte die englischen Worte gehört und schien Scarlett erst jetzt wahrzunehmen. Sie sah blinzelnd zu ihr auf und murmelte etwas auf Chinesisch.
»Sie bietet an, dir die Zukunft vorauszusagen«, übersetzte Mrs Cheng. »Aber das wird dich dreißig Hongkong-Dollar kosten.«
»Das sind doch nur zwei Pfund.«
»Es ist absolute Geldverschwendung.«
»Das ist mir egal.« Scarlett griff in ihre Tasche, legte das Geld auf die Matte und setzte sich dann auf den Plastikstuhl auf ihrer Seite des Tisches. Die Wahrsagerin faltete die Scheine und ließ sie in der kleinen Börse verschwinden, die sie um den Hals trug. Dann nahm sie eine weiße Karte und legte sie vor Scarlett auf den Tisch. Sie sagte etwas zu Mrs Cheng.
»Sie will, dass du etwas auswählst«, erklärte Mrs Cheng.
Auf der Karte war eine Reihe von Kategorien aufgelistet, sowohl auf Chinesisch als auch auf Englisch. Scarlett konnte wählen, über welchen Teil ihres Lebens sie etwas erfahren wollte: Familie, Liebe und Ehe, Gesundheit, Arbeit und Wohlstand oder Ausbildung.
»Wahrscheinlich sollte ich Familie nehmen«, sagte sie. »Vielleicht kann sie mir sagen, was mit meinem Vater ist.«
»Dein Vater wird bald wieder da sein, Scarlett.«
»Also gut. Dann nehme ich Liebe und Ehe.« Scarlett tippte auf die Worte auf der Karte und dachte dabei kurz an Aidan. Sie fragte sich, was er wohl gerade machte.
Die Wahrsagerin legte die Karte beiseite und wählte einen der Haufen mit Umschlägen, die sie vor den drei Käfigen ausgebreitet hatte. Jeder Käfig hatte ein Türchen, von denen sie nun eines öffnete. Der kleine gelbe Vogel hüpfte heraus, wie er es gelernt hatte, sprang auf die Reihe mit den Umschlägen und zog mit dem Schnabel einen heraus. Die alte Frau belohnte ihn mit ein paar Körnern und der Vogel hüpfte brav wieder in seinen Käfig. Es war alles sehr schnell vorbei.
Die Frau öffnete den Umschlag und reichte Scarlett das Stück Papier, das darin gewesen war.
»Soll ich es für dich übersetzen?«, fragte Mrs Cheng.
Scarlett warf einen Blick darauf. »Nicht nötig«, sagte sie. »Es ist auf Englisch.«
»Und was steht da?«
»›Gute Neuigkeiten vom Glücksvogel Nummer zwei‹«, las Scarlett vor. »Du wirst deine wahre Liebe im Monat April finden. Deine Ehe wird lang und glücklich sein und du wirst viele Länder bereisen. Im Alter wirst du viel Geld verdienen. Geh klug damit um.« Sie faltete das Blatt in der Mitte. »Das ist alles.«
»Da steht doch nur, was du hören wolltest«, bemerkte Mrs Cheng.
»Der Vogel hat das für mich ausgesucht.« Sie hielt das Blatt hoch, damit Mrs Cheng sich selbst überzeugen konnte. »Da sehen Sie es. Ich werde einmal reich sein.«
Mrs Cheng nickte nur. Dann kehrten sie zusammen mit Karl zum Wagen zurück. Auf dem ganzen Weg schlug Scarlett das Herz bis zum Hals und sie umklammerte das Blatt Papier. Sie
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