Hoellenprinz
Lukasâ Zunge gebildet. Bernhard war ein selbstgefälliges Ekelpaket. Er trat wie eine ganze Armee auf: zackig, laut, korrekt und immer in Eile. Lukas kannte ihn seit seiner Geburt. Allein die Vorstellung seiner Stimme lieà ihn innerlich strammstehen.
»Wir haben die erforderlichen Formulare bereits zusammengestellt. Gertrud!«
Mit diesen Worten hatte Mutter einen braunen Umschlag hinter ihrem Rücken hervorgeholt und Lukas auf den Schoà gelegt. »Lies dir das gut durch, Junge. Unterschrieben habe ich bereits, da du ja erst nächstes Jahr 18 wirst. Sei froh, dass ich mich so gut um dich sorge.«
»Papa, ich â¦Â« Lukas hatte räuspernd einen Frosch aus seinem Hals entfernt und noch mal neu angesetzt: »Ich ⦠ich möchte auf die Filmakademie. Das Semester fängt im Oktober an und da muss ich jetzt eine â¦Â« Weiter war er nicht gekommen. Es hätte nur seines Blickes bedurft, doch sein Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, die Zerstörung des Traums auch noch in Worte zu fassen: »Papperlapapp. Du heiÃt nicht Meyer oder Müller. Dein Name lautet Lukas Theodor von Erpenstein. Unsere Aufgabe ist es, diesem Namen Ehre zu machen, und da wirst du dich nicht â¦Â«
Wie er diesen Vortrag hasste! Er kannte ihn von klein auf und vermittelte ihm das Gefühl, in eine falsche Familie hineingeboren worden zu sein. Seine Gedanken trugen ihn davon und Lukas lieà vor seinen inneren Augen seinen bisher besten Film ablaufen:
Eine kleine Seele springt durchs Universum, rollt nach dort, dreht sich hierhin, lässt sich treiben und summt unbeschwert vor sich hin.
»Ich freu mich so!«, ruft sie immer wieder.
SchlieÃlich kommt sie in einen Saal, über dessen Eingangstor ein Schild hängt: »Saal der neuen Lebensseelen«.
Hier wimmelt es von Seelen der unterschiedlichsten Art. Unsere begibt sich auf ihren Startpunkt und hüpft weiterhin voller Vorfreude auf das neue Leben auf und ab. Dadurch bringt sie die Seele neben sich aus dem Gleichgewicht. Die beiden kullern durcheinander. Ausgerechnet in dem Moment ertönt der Startschuss hinunter auf die Erde und die beiden werden mitgerissen, ohne vorher ihre für sie vorgesehenen Plätze eingenommen zu haben.
Die Konsequenz: Sie landen in falschen Familien und müssen jeweils ein anderes Leben führen als eigentlich für sie vorgesehen war. Die eine sitzt klein, blass und adelig zwischen Juwelen und Kronen, die andere ebenso schmächtig inmitten einer chaotischen Künstlerfamilie. Am Ende des Films steht der Satz:
»Seelen seid wachsam, bereits vor eurer Geburt!«
Die eingetretene Stille hatte Lukas zurück ins Wohnzimmer gebracht. Sein Vater war fertig und Lukas hatte genickt. Das war nie verkehrt. Er kannte die Monologe und konnte davon ausgehen, dass am Ende mal wieder Lukasâ Verantwortung gestanden hatte, den sagenumwobenen Namen von Erpenstein in die nächsten Generationen zu tragen, erhobenen Hauptes, stolz und aufrecht! Er war nicht nur in der falschen Familie, sondern auch im falschen Jahrhundert gelandet!
Am Ende hatte er den braunen Umschlag genommen, seine Mutter auf die Stirn geküsst, wie es von ihm erwartet wurde, seinem Vater die Hand gegeben und sich bedankt. Eines hatte er gelernt: Aufmucken brachte ihn keinen Schritt weiter.
Sein Handy vibrierte. Es war der Hagere, wie besprochen.
»Um null Uhr. Shell-Tankstelle Kleinweisel. Hinter dem Laden bei den Mülltonnen.«
Lukas sah auf die Uhr. Er hatte 25 Minuten Zeit, leider nicht genug, um mit dem Fahrrad zu fahren, also musste er wieder das Auto von seinem Vater nehmen, wie beim letzten Mal. Da war wenigstens Daniel dabei gewesen. Jetzt musste er alleine das Auto aus der Garage klauen und möglichst leise die Einfahrt im Dunkeln runter auf die StraÃe rollen. Aber er hatte keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Er tastete seine rechte Hosentasche nach dem USB-Stick ab und die linke nach dem Autoschlüssel. Sein Handy steckte er in die GesäÃtasche, Schuhe und Jacke hatte er bereits an. Zum Glück schliefen seine Eltern ein Stockwerk über ihm auf der anderen Seite des Gangs. Die Chancen standen gut, dass sie ihn nicht hören würden.
Er öffnete mit geübten Griffen das Fenster so leise, dass nicht einmal er etwas hörte, stieg auf das Gerüst der Kletterrosen und tastete sich Stufe für Stufe nach unten. Irgendwann wird das Gerüst zusammenbrechen, dachte
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