Hoellenprinz
er und setzte, als er auf der unteren Querstrebe angekommen war, vorsichtig seinen Fuà auf den knirschenden Kies. Jetzt einen groÃen Schritt und dann war er auf dem Rasen. Geschafft. Im Haus blieb es still. Geräuschlos ging er zur Garage, der Mond beleuchtete die laue Sommernacht und warf lange Schatten über die Rasenfläche und die Abdeckung des Swimmingpools. Die Nacht war wie geschaffen für Liebende, Sternegucker, Romantiker, Poeten, aber nicht für Menschen wie ihn, die offenen Auges auf ihren Abgrund zurasten.
Das Betreten der Garage stellte noch kein Problem dar, denn die Hintertür quietschte nicht. Das groÃe Tor dafür umso mehr. Wie oft hatte er schon versucht, mit Ãl oder Fett das Quietschen zu dämmen, leider erfolglos. Er entriegelte das Tor von innen und hob es Zentimeter für Zentimeter in die Höhe. Die dabei entstehenden Knackgeräusche glichen dem Knarzen von Bäumen, das hoffte Lukas zumindest. Zum Glück war die Auffahrt abschüssig, sodass er den Motor nicht anmachen musste. Er öffnete die Fahrertür, löste Handbremse und Gang, dann schob er den Wagen aus der Garage. Die einzige Schwachstelle war das Knirschen der Reifen auf dem Kies, das musste er so schnell wie möglich hinter sich bringen. Mit ganzer Kraft schob er das Auto an, dass es Fahrt bekam, sprang auf den Fahrersitz, lieà das Licht und den Motor aus, bis er aus der Einfahrt raus auf die StraÃe gerollt war. Erst dann drehte er den Schlüssel im Schloss. Der Motor sprang an und Lukas sauste davon. Im Rückspiegel behielt er bis zur nächsten Kurve sein Elternhaus im Auge. Alles blieb dunkel. Gut. Das wäre geschafft. Allerdings war das wohl kaum die schwierigste Aufgabe für heute Nacht.
Jedes Mal schickte der Hagere die Jungs an einen anderen Ort. Wenn er ihnen den Treffpunkt immer erst ein paar Minuten vorher nannte, konnten sie keine Kamera und kein Aufnahmegerät installieren. Der Hagere kannte sich aus.
Nach Kleinweisel brauchte er etwa zehn Minuten. Er war gut in der Zeit. Auf halber Strecke fiel ihm ein, dass er am Zeltplatz vorbeimusste. Sofort trat er auf die Bremse, kehrte um und nahm einen Umweg über die Dörfer. Es war absurd, aber er wollte auf keinen Fall jetzt an diesem Todesort vorbei.
Kleine schwarze, langarmige Wesen, gewoben aus den Geschehnissen der Vergangenheit, schlingern über die StraÃe, bespringen vorbeifahrende Autos und heften sich so lange an die Karosserie, bis die Menschen aussteigen. Dann befallen sie sie und schlüpfen durch alle Körperöffnungen in sie hinein.
Aber die Realität ist noch schlimmer, dachte Lukas. Die Wesen tummelten sich nicht nur am Ort des Todes, sondern hatten sich längst überall ausgebreitet. Seine Fahrt über die Dörfer half nichts. Die Bilder waren da und nicht mehr wegzudrängen. Er machte das Radio an. Der Jazzsender seines Vaters war eingestellt. Egal. Er drehte voll auf, sodass die Solotrompete direkt durch sein Hirn trötete. Wer hatte Daniel umgebracht? Seine Augen starrten ihn an, blutunterlaufen, vor Angst geweitet, tot. Jetzt auf keinen Fall durchdrehen. Er musste bei klarem Verstand bleiben, sich auf das Treffen konzentrieren. Er sang laut mit, obwohl er das Lied gar nicht kannte. Er sang einfach irgendwas, und damit seine Stimme lauter war als die Bilder in seinem Kopf, fing er irgendwann an zu brüllen.
Der Hagere war natürlich schon da und trat aus einer finsteren Ecke ins Licht, nachdem Lukas sich, wie befohlen, neben die Mülltonnen gestellt hatte.
»Sehr theatralisch«, hatte Lukas das letzte Mal geflüstert, als er mit Daniel wie verabredet mitten auf der Sportfliegerrollbahn stand und der Hagere aus dem Wald gekommen war.
Wie schmächtig er ist, dachte Lukas. Der Hagere sah von Weitem aus, als könnte man ihn mit einer Hand umschubsen.
»Ich hatte schon befürchtet, dass du nicht kommst.« Seine tiefe Bassstimme, die nicht zu seiner Figur passte, lieà ihn um Zentimeter wachsen, aber noch mehr sein Blick. Seine Augen lagen extrem dicht beieinander unter einer hohen Stirn und wirkten wie Magnete: anziehend und abstoÃend zugleich.
»Warum sollte ich nicht kommen?«
»Weil dein Freund tot ist.«
»Was wäre passiert, wenn ich nicht gekommen wäre?«
Kaum merklich zuckten die Wangen des Hageren, sodass die Augen für den Bruchteil einer Sekunde etwas schmaler wurden.
»Das hättest du auf jeden Fall
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