Hoellenprinz
sehnlicher, als wieder elf Jahre alt zu sein. Damals war sie erwischt worden, als sie ein Glätteeisen geklaut hatte. Sie hatte tagelang mit der Angst gelebt, was ihre Eltern sagen würden, wenn der Brief des Kaufhauses sie erreichte. »Das nächste Mal sagst du uns, wenn du etwas brauchst«, war dann ihr einziger Kommentar gewesen und damit hatte sich das Problem aufgelöst, in nichts. Gute Eltern konnten Probleme einfach auflösen, doch auch sie haben ihre Grenzen.
»Ich habe Hunger«, sagte Ela.
Eine Stunde später saÃen die drei vor den leeren Schachteln vom China-Lieferdienst und Ela hatte ihnen alles erzählt. Sie hatte nichts ausgelassen, von Frau Volkmann würden sie eh alles erfahren, da war es ihr lieber, wenn sie es von ihr hörten.
»Eine schöne ScheiÃe«, kommentierte ihre Mutter, als Ela fertig war, und nahm sie in den Arm. »Mein armes Mädchen.«
»Du hast Daniel nicht umgebracht«, sagte ihr Vater mit fester Stimme.
»Woher weiÃt du das?«
»Ich weià es einfach.«
»Ich rufe morgen in der Schule an«, sagte ihre Mutter. »Du bleibst für den Rest der Woche zu Hause. Und dann schauen wir mal, was wir unternehmen können.«
Am Abend rief auch noch Mirko an und wollte wissen, wie es ihr im Präsidium ergangen war. Sie erzählte ihm von ihrem Besuch am Tatort, von Lukas, der plötzlich bei ihr aufgetaucht war und von der Rückkehr ihrer Eltern. Mirko hörte zu, fragte nach und beteuerte bei jeder Gelegenheit, dass er an ihre Unschuld glaubte. Nach wie vor wunderte Ela sich über diese stoische Treue, die er an den Tag legte.
»Kommst du morgen zur Trauerfeier?«, fragte er. »Zu welcher Trauerfeier?«
»Du warst also noch nicht auf Facebook, oder?«
»Stimmt.«
»Daniels Freunde treffen sich morgen Mittag auf dem Zeltplatz, weil die Beerdigung nur im engsten Familienkreis stattfindet.«
»Oh. Nee. Weià nicht. Ist vielleicht nicht so eine gute Idee, wenn ich da auftauche, oder?«
»Hmm ja, hast wahrscheinlich recht. Richtig willkommen wirst du dort nicht sein. Sorry, muss Schluss machen. Meine Mutter ruft. Melde dich, wenn du mich brauchst.«
Ela spürte, dass sie heute zum ersten Mal gut schlafen würde. Sie setzte sich ans Fenster und schaute auf das Nachbarhaus. Komisch. Das hatte sie ihr Leben lang jeden Abend getan. Ob sie das jemals würde abstellen können? Sie blickte auf das Garagentor, und da fiel ihr die verwüstete CD- und DVD-Sammlung wieder ein. Wer hatte die so zugerichtet? Und vor allem: Warum? Die Polizei würde doch das Zimmer eines Opfers nicht auf die Weise verwüsten! Es hatte so ausgesehen, als hätte jemand etwas gesucht. Aber was? Und wer? Und wenn tatsächlich jemand in Daniels Zimmer etwas gesucht hatte, dann hatte derjenige es vielleicht nicht gefunden, weil es in der Garage war. Dort hatte Daniel sich in letzter Zeit öfter aufgehalten als in seinem Zimmer.
Ich werde nachschauen â heute noch, dachte Ela und wunderte sich über sich selber. Sie hatte nichts zu verlieren. Sie war die einzige Verdächtige. Schlimmer konnte die Wahrheit nicht werden. Warum sollte sie ihr also nicht nachhelfen? Unten im Wohnzimmer hörte sie ihre Eltern und Tante Waltraud miteinander reden. Sie musste noch warten, bis die alle in ihren Betten verschwunden waren. Sie widerstand der Versuchung, kurz auf Facebook nachzuschauen, welche Neuigkeiten es gab. Das war nun mal der beste Ort, um auf dem Laufenden zu bleiben, und sie hätte zu gerne Näheres über die Trauerfeier erfahren. Aber bei dem Gedanken daran, was alles auf ihrer Pinnwand stehen könnte, lief es ihr kalt den Rücken runter. Heute war der erste erträgliche Abend, den wollte sie sich nicht kaputt machen lassen.
Da. Sie hörte, wie die Erwachsenen einander Gute Nacht sagten. Ela huschte schnell ins Bett, machte das Licht aus und stellte sich schlafend. Ihre Eltern würden vor dem Schlafengehen sicher noch mal bei ihr reinschauen, also musste sie so tun, als schliefe sie fest. Sie kämpfte gegen die Müdigkeit an, lange würde sie nicht durchhalten.
Sie erwachte aus einem traumlosen Schlaf und fühlte sich so fit wie zum letzten Mal am Freitagmorgen, dem Tag der Abiparty. Der Wecker sagte ihr, dass sie fünf Stunden geschlafen hatte. Jetzt war es drei Uhr. Gut, denn den Schlaf hatte sie bitter nötig gehabt. Sie schlüpfte in ihre Jogginghose,
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