Hoellenprinz
den Vorschlag, aber ich fahr mit dem Rad. Brauche ein bisschen Bewegung.
Was für eine bescheuerte Ausrede. Aber der Gedanke, der ihr gerade gekommen war, machte sie nervös. Was, wenn Mirko etwas mit Daniels Tod zu tun hatte. Eifersucht, Konkurrenz? Schwachsinn! Er war ja gar nicht mehr da gewesen, als es passiert war. Andererseits wohnte er in der Nähe. Die Ãberlegungen kamen mit ungezügelter Kraft. Ela setzte alles daran, diese fixe Idee zu verscheuchen. Sie wollte das nicht, wollte nicht schlecht über Mirko denken, den Einzigen, der neben ihren Eltern noch an ihre Unschuld glaubte. Doch die Gedanken waren stärker als sie und plötzlich stand Mirko, der Junge, der sich schon mindestens seit einem Jahr um sie bemühte, vor ihrem inneren Auge und spielte ein mörderisches Spiel mit ihr. In dem Moment schoss eine Erinnerung in ihren Kopf, als hätte sie seit Samstagmorgen nur auf ihr Stichwort gewartet.
Als ich Mirko auf mich zukommen sehe, wische ich schnell meine Tränen mit dem Ãrmel ab. Ich will nicht, dass er mich weinen sieht, eigentlich will ich, dass er mich überhaupt nicht sieht, deshalb habe ich mich ja auch in die hinterste Ecke des Schulhofs auf das Mäuerchen gesetzt.
»Hey Ela, was sitzt du hier so alleine?«
»Ich gehe noch mal die Englischvokabeln durch.«
»Wieso das denn? Wir schreiben den Test doch erst am Freitag. Heute ist Dienstag.«
»Vielleicht nimmt sie mich heute mündlich dran. Ist so ein Gefühl.«
Wenn Lügen stinken würden, würde Mirko jetzt gehen, aber das tun sie nicht, sie erregen nur Mitleid, zumindest bei sensiblen Typen wie Mirko.
»Was ist denn los mit dir?«
»Es ist nichts.«
»Es ist wegen Daniel, stimmtâs?«
Die Frage schieÃt direkt in meine Magengegend.
»Wieso?«
»Weil er mit Biggy zusammen ist. Und nicht mit dir.«
Ich sage nichts, mir fällt nichts ein. Es wäre entweder eine neue Lüge oder die Wahrheit. Beides krieg ich nicht über die Lippen.
»Er ist deine Liebe nicht wert, Ela!«, hatte Mirko überraschend heftig hinzugefügt. »Denk mal drüber nach.«
Er geht und seine Worte schwirren wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm durch meinen Kopf.
Ela schlug mit der Hand auf den Schreibtisch, um die Erinnerung loszuwerden. Diese Unterhaltung hatte vor etwa zehn Monaten stattgefunden. Daniel war höchstens zwei Wochen mit Biggy zusammen gewesen, aber es hatte Ela tatsächlich fast das Herz zerrissen, so wie alle anderen seiner kurzen Beziehungen auch. Mirko hatte sie völlig unverblümt auf ihre Liebe zu Daniel angesprochen â und auf ihr Leid. Wie mutig eigentlich. Und wie schmerzhaft für ihn, dem es ganz genauso erging, ihretwegen.
Sie stand auf und ging in ihrem Zimmer auf und ab.
Wie viel Alkohol hatte Mirko an dem Abend getrunken? »Lass mich in Ruhe!«, »Woher weiÃt du das?« und: »Du bist ein Schwein.« Das waren die Sätze, die im Wald gesprochen wurden. »Woher weiÃt du das?« ist der einzige Satz, der Rätsel aufgibt, ansonsten könnten sich Daniel und Mirko die Sätze an den Kopf geworfen haben. Was, wenn Daniel etwas Demütigendes im Wald zu ihr gesagt hatte, an das sie sich nicht mehr erinnerte, das Mirko aber mitbekommen hatte. SchlieÃlich wohnte er in der Nähe und war vielleicht noch mal zurückgekommen. Mirko war mutig, verliebt und hatte in Daniel schon immer einen Konkurrenten gesehen. Und Daniel war aufgebracht, besoffen und hatte einen seiner beschissensten Küsse hinter sich. So ein Kampf mit Unfallfolgen konnte sich schnell entwickeln, zumindest in Büchern und Filmen, warum dann nicht auch im realen Leben?
»ScheiÃe!«, rief Ela laut bei dem Gedanken, dass Daniel womöglich ihretwegen hatte sterben müssen. »Nein, nein, neinneinnein!«
Einmal kurz Luft holen und dann einfach nicht mehr denken, dachte sie. Auf zur Trauerfeier, vielleicht klärte sich da einiges auf. Sie lieà den Computer runterfahren, versuchte, noch mit ein paar Handgriffen im Bad die schlimmsten Spuren der letzten Tage in ihrem Gesicht zu verdecken, dann radelte sie los.
Mit jedem Tritt wurde sie ruhiger, obwohl sie dem Ort des Schreckens immer näher kam. Die sprichwörtliche Höhle des Löwen war wahrscheinlich eine Kuschellandschaft gegen das, was sie jetzt erwartete. Sie musste es schaffen, das Facebook-Gerede auszublenden. Es war nur Geschwätz!
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