Höllenschlund
bedeckte. Erhöhte Stege führten zwischen den Säulenreihen hindurch. Stimmen hallten in der höhlenartigen Kammer wider. Im Hintergrund wurde klassische Musik gespielt. Das Geräusch tropfenden Wassers kam von mehreren Stellen.
»Die Römer haben diese Zisterne erbaut, als Wasserspeicher für den Großen Palast«, sagte Austin. »Die Byzantiner entdeckten sie wieder, als die Stadtbewohner durch Löcher in den Fußböden ihrer Häuser Fische fingen. Zur steinernen Dame geht es hier entlang.«
Sie liefen bis zum Ende eines Stegs und stiegen dort auf eine niedrigere Plattform. Zwei dicke Säulen erhoben sich aus Sockeln, die als Medusenhäupter gestaltet waren. Ein Gesicht lag auf der Seite, das andere stand auf dem Kopf. Ständig kamen neue Touristen, um von dieser Kuriosität Schnappschüsse zu machen.
Schließlich hielt sich in ihrer Nähe nur noch ein Mann im mittleren Alter auf, der schon seit ihrer Ankunft dort gewesen war. Er hatte zwar eine Kamera dabei, benutzte sie aber nicht. Er trug schwarze Hosen und ein kurzärmliges weißes Hemd ohne Krawatte – die Alltagsuniform vieler Türken.
Seine Augen wurden von einer getönten Pilotenbrille verdeckt, obwohl es in der Zisterne recht dunkel war.
»Was glauben Sie, warum die Römer die Köpfe in dieser seltsamen Position angeordnet haben?«, fragte er Carina. Er sprach Englisch mit einem leichten Akzent.
Carina musterte die Skulpturen. »Vielleicht sollte es nur ein Scherz sein. Oder ein Gesicht schaut sich die Welt an, wie sie auch sein könnte, und das andere, wie sie wirklich ist.
Die verkehrte Welt.«
»Ausgezeichnet. Sie sind vermutlich Signorina Mechadi«, sagte der Mann.
»Cemil?«
»Zu Ihren Diensten«, sagte er mit einem Lächeln. »Und das muss Ihr Freund Mr. Austin sein.«
Austin schüttelte dem Türken die Hand. Nachdem er von Cemils Unterweltaktivitäten gehört hatte, hatte er einen Runyon-artigen schweren Jungen mit türkischem Einschlag erwartet. Doch dieser Mann hier sah eher wie der typische Lieblingsonkel aus.
»Es freut mich, dass wir uns nach all unseren Geschäften endlich persönlich begegnen, Signorina Mechadi. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir suchen nach einer zweiten Statue, die genauso aussieht wie die, die aus dem irakischen Nationalmuseum gestohlen wurde.«
Cemil blickte sich zu einer neuen Touristengruppe um und schlug vor, einen Spaziergang zu machen. Während sie zwischen den Säulenreihen hindurchgingen, sagte er: »Istanbul wurde von Ware aus Bagdad geradezu überschwemmt.
Das hat die Preise gedrückt. Haben Sie ein Foto?«
Austin reichte ihm die Miniatur des
Navigators
. »Das ist ein maßstabsgetreues Modell. Die echte Statue ist fast mannshoch.«
Cemil zog eine Lichtlupe hervor und untersuchte die Figur. Er lachte glucksend. »Ich hoffe, Sie haben nicht zu viel für dieses Kunstwerk bezahlt.«
»Erkennen Sie es wieder?«, fragte Carina.
»Aber ja! Folgen Sie mir.«
Cemil führte sie zum Ausgang, wo sie wieder ins Tageslicht hinaufstiegen. Bis zum Großen Basar war es nur eine kurze Fahrt mit der Straßenbahn. Der Basar war ein Labyrinth aus Hunderten von Läden, Restaurants, Cafés und
hans
, das sind die Lagerräume der ehemaligen Karawanserei. Höflich-aufdringliche Verkäufer lauerten wie Falltürspinnen, um sich auf vorbeikommende Touristen zu stürzen und ihnen möglichst viele türkische Lira abzuschwatzen.
Sie traten durch das Carsikapi-Tor und kämpften sich durch das drückend heiße, unklimatisierte Gewirr aus überdachten Gassen. Cemil bewegte sich hier mit traumwandlerischer Sicherheit. Er führte sie tief ins Herz des Basars und blieb schließlich vor einem kleinen Geschäft stehen.
»
Merhaba
«, sagte Cemil zu einem Mann in den Sechzigern, der vor dem Geschäft saß, Tee trank und eine türkische Zeitung las. Der Verkäufer grinste breit. Er legte die Zeitung weg, erhob sich, und gleich darauf drückte er kräftig Cemils Hand.
»
Merhaba
«, sagte er.
»Das ist Mehmet«, erklärte Cemil. »Ein alter Freund von mir.«
Mehmet holte bequeme Kissen aus dem Laden, damit seine Gäste darauf Platz nehmen konnten, und schenkte Tee ein. Cemil und er unterhielten sich auf Türkisch. Nach ein paar Minuten bat Cemil um die Figur. Austin gab sie ihm, und Cemil reichte sie an Mehmet weiter. Der Ladenbesitzer sah sich das Miniaturmodell des
Navigators
an und nickte eifrig. Mit ausladenden Gesten forderte er seine Gäste auf, in den Laden zu treten. In den Regalen und auf dem Boden häuften sich
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