Höllental: Psychothriller
vergebens.
»Hau ab«, zischte Bernd. »Wenn ich dich erwische, bringe ich dich um. Verlass dich drauf.«
Ricky taumelte zurück.
Diesen Hass hatte er nicht erwartet. Plötzlich hatte er Angst vor Bernd Lindeke, dem kleinen Scheißer und Weichei, der Heulsuse, dem Wahnsinnigen.
Ricky lief zu seinen Wagen, öffnete die Tür, warf sich auf den Sitz, bemerkte dann aber den Zettel hinter dem Scheibenwischer.
Im ersten Moment hielt er es für ein Knöllchen. Er grapschte danach, ohne auszusteigen, bekam das merkwürdig harte Kärtchen zu fassen und hielt es ins Licht der Innenraumbeleuchtung.
Es war eine Fotografie. Eindeutig in ihren Einzelheiten.
»Scheiße«, stöhnte Ricky auf. »Du blödes …«
Er sah zu der Stelle auf, an der Bernd in den Büschen lag, doch der war verschwunden.
»Ihr Handy habt ihr nicht gefunden?«, fragte Mara Landau.
Roman schüttelte den Kopf. »Komm, lass mich das noch mal wechseln«, sagte er, und griff nach ihrem Arm.
Nachdem Bernd Lindeke in die Nacht verschwunden war, hatte Roman dem Mädchen vom Boden hochgeholfen und es zurück in die Wohnung gebracht. Sie war schwer auf den Ellenbogen gestürzt und hatte sich eine Schürfwunde und einen Bluterguss zugezogen. Roman hatte die Wunde vorsichtig gesäubert, ein Handtuch in kaltes Wasser getränkt und es um den Ellenbogen gewickelt. Mara hatte dabei nicht einmal gezuckt, aber sie hatte geweint. Nicht wegen der Schmerzen, sondern weil sie völlig verzweifelt war. Für Roman war es selbstverständlich gewesen, sie in dieser Verfassung nicht allein zu lassen. Also war er bei ihr geblieben, und jetzt war es eigentlich schon zu spät, um noch zurückzufahren. Vor allem, weil es schneite. Er würde sich wohl ein Hotelzimmer suchen müssen.
»Wenn Laura ihr Handy in der Tasche hatte, dann ist es im Fluss gelandet. Warum fragst du?«
Irgendwann, während Roman sich um ihren verletzten Arm gekümmert hatte, waren sie wie selbstverständlich zum Du gewechselt.
»Ich habe an dem Nachmittag eine SMS von ihr bekommen. Sie muss sie abgeschickt haben, bevor sie gesprungen ist.«
Roman betrachtete die Wunde. Sie war nicht tief und würde gut heilen. Der Bluterguss verfärbte sich langsam, war aber dank der Kühlung nicht größer geworden. »Bewegen ist kein Problem?«, fragte er.
Mara ließ es zu, dass er vorsichtig ihren Unterarm hin und her bewegte. »Nein, es spannt nur ein wenig«, sagte sie.
»Okay. Gebrochen ist jedenfalls nichts. Das wird schnell verheilen. Wir lassen das Handtuch weg, damit die Wunde trocknen kann.«
Er legte es beiseite und sah sie an. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie hatte schöne braune Augen. Aber der verletzte Ausdruck darin war etwas, was Roman nicht gut ertragen konnte.
»Eine SMS , kurz vor dem Sprung? Was hat sie geschrieben?«
»Nur ein einziges Wort. Ich bin sicher, sie wollte mir damit etwas sagen, aber ich verstehe es einfach nicht.«
»Wie lautet es?«
»Hinauf. Mit einem Ausrufezeichen.«
»Hinauf«, wiederholte Roman. Spontan fiel ihm dazu ein, dass Laura Waider aufgestiegen war, um in den Tod zu springen. Er fragte Mara, was sie von dieser naheliegenden Erklärung hielt.
»Ich weiß nicht … Sie hat mir wochenlang nicht mehr geschrieben, und dann dieses Wort kurz vor ihrem Tod. Es muss einfach eine besondere Bedeutung haben.«
»Sie war verwirrt und wusste vielleicht gar nicht mehr, was sie tat«, sagte Roman. Er schaute in seine Teetasse, fühlte sich augenblicklich wieder an den Stopselzieher erinnert und sah Laura Waiders Blick. Die panische Angst davor, gerettet zu werden.
»Ich hab das ihren Eltern nicht erzählt«, begann Roman, ohne aufzusehen. »Aber ich hatte Laura schon gepackt … Ich hielt sie in der Hand.«
»Was?«
Er nickte und bewegte die Tasse, sodass in dem Tee eine Art Strudel entstand.
»Ich wollte ins Tal hinunter, als ich Spuren im Schnee fand. Aber niemand steigt bei einem beginnenden Schneesturm in die Klamm hinauf. Also bin ich den Spuren gefolgt. Als ich die Brücke erreichte, stand sie auf dem Geländer. Ich rannte los. Sie sah mich, sprang, aber ich konnte ihren rechten Arm packen.«
»O nein!«
»Doch. Ich hielt sie in der Hand. Sie hing über der Klamm, siebzig Meter geht es dort hinunter. Wenn sie mir nur ein bisschen geholfen hätte, dann hätte ich sie hochziehen können. Aber sie wollte nicht. Sie hat ihren Arm hin und her gedreht. Ich konnte sie nicht halten …«
»Großer Gott«, sagte Mara, schlug sich eine Hand vor den Mund, ließ sie dann
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