Höllental: Psychothriller
nicht nur mit dem Fluss treiben, sondern drang mit kräftigen Schwimmzügen weiter voran. Er schwamm, bis seine Lunge zu platzen drohte. Erst dann tauchte er am Ufer wieder auf.
Vor ihm ragte in einem Meter Höhe eine graue Betonröhre aus der Böschung. Ein Rinnsal sauberen Wassers lief daraus in den Fluss. Wie eine Zunge hing ein langer Algenlappen heraus. Der Durchmesser der Röhre war groß genug, um sich darin zu verstecken. Er musste nur hineinkommen.
Der Fremde war nicht zu sehen. Ricky glaubte aber nicht, dass er so einfach aufgegeben hatte. Er war ihm aus der Stadt bis hierhergefolgt und würde sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ricky an seine Freunde. Hatte der Fremde sie wirklich getötet?
Er stemmte seine Füße in die weiche Uferböschung und versuchte, sich ein Stück hochzuschieben. Zwanzig, dreißig Zentimeter würden schon reichen, dann könnte er den Rand der Betonröhre packen. Beim ersten Versuch rutschte er ab und fiel ins Wasser zurück. Das Platschen empfand er als sehr laut.
Still verharrte er und lauschte.
Da!
Ein quietschendes Geräusch. So als würde jemand über einen Stacheldrahtzaun oder ein Holzgatter steigen.
Er kam.
Hastig unternahm Ricky einen neuen Versuch. Er wusste, er hatte nur noch diese eine Chance. Er krallte sich fest in die Böschung. Mit den Füßen kratzte er in dem aufgeweichten Boden, trat große Lehmbrocken daraus hervor, die laut platschend ins Wasser fielen und untergingen. Endlich bekam er den Rand der Betonröhre zu fassen. Erst mit der rechten, dann auch mit der linken Hand. Er zog sich hoch und schob seinen Oberkörper in die Dunkelheit. Das war ein beängstigendes Gefühl, und alles in ihm sträubte sich dagegen, mit dem Kopf voran tiefer in die Röhre zu kriechen, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Er hatte keine Zeit mehr, sich umzudrehen.
Er kroch so weit hinein, bis kein Licht mehr auf seinen Körper fiel.
Dann blieb er liegen.
Das kalte Wasser floss oben in den Ausschnitt seiner Jacke und lief unter seiner Kleidung den ganzen Körper entlang. Noch nie im Leben hatte Ricky so gefroren. Er konnte es nur ertragen, weil da draußen der sichere Tod auf ihn wartete.
In der Röhre war es ruhig. Das Wasser floss leise. Er lauschte.
Nach vielleicht einer Minute hörte er über sich ein schmatzendes Geräusch. Ricky stellte sich vor, wie der Fremde bei jedem Schritt tief in den Acker einsank und sich mühsam wieder daraus befreien musste. So etwas kostete viel Kraft. Ricky kannte das vom Spuren im Tiefschnee.
Wie lange hielt er das durch?
Ricky hoffte, dass man die Betonröhre von oben nicht sah. Wenn doch und wenn der Fremde einen Blick hineinwarf, war Ricky verloren.
Er hielt den Atem an und schloss die Augen. Seine Muskeln verkrampften sich.
Vor Angst machte er sich in die Hose.
Wenigstens ein bisschen Wärme.
Nach dem Gespräch mit Leitenbacher fuhr Roman nach Hause. Auf der Straße hatte sich bereits eine dünne Schneedecke gebildet. Die Eiskristalle glitzerten im Licht der Scheinwerfer. Es war kaum noch jemand unterwegs.
Roman war gleichzeitig verwirrt und erleichtert. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Leitenbacher ihn ernst nehmen würde. Der Oberkommissar war ihm ein Rätsel. Roman fragte sich, ob er ihm irgendwann einmal auf die Füße getreten war, ohne es bemerkt zu haben. Rührte Leitenbachers Antipathie daher?
Wie auch immer, das war jetzt nicht so wichtig. Morgen würde Leitenbacher der Sache nachgehen und herausfinden, dass Roman sich nichts davon ausgedacht hatte. Damit wäre zusätzlich zu Torben Sand noch die Polizei auf der Suche nach den wahren Hintergründen von Laura Waiders Tod.
Roman war sich sicherer denn je, dass es kein Freitod gewesen war. Ihr letzter Blick hatte ihm gezeigt, dass sie vor irgendjemandem so große Angst gehabt hatte, dass ihr der Tod wie eine Erlösung vorgekommen war. Und diesen Jemand mussten sie finden.
Kalkbarriere nannte Leitenbacher das, und in den letzten zwei Jahren war es immer häufiger vorgekommen. Er wusste genau, in seiner Erinnerung lagerte eine wichtige Information, aber er kam nicht heran. Und je länger und intensiver er es versuchte, umso massiver wurde die Barriere.
Drei Stunden nachdem er sein Büro im Präsidium verlassen hatte, betrat er es wieder. Zu Hause hatte er es nicht ausgehalten. Seine Frau hatte mal wieder einen ihrer schlimmeren Tage. Sie hatte sich vom Pizzadienst Sekt und Bier bringen lassen. Seitdem er
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