Höllental: Psychothriller
sich festzuhalten. Wer hier stürzt, fällt mehrere Meter tief in ein Schuttbett.
An der Engstelle vor der Platte schiebe ich mich an ihr vorbei. Wir kommen uns sehr nahe. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind müde, ein wenig ängstlich, aber ich sehe auch Dankbarkeit darin. Sie ist froh, mit mir gehen zu dürfen.
Ich reiche ihr meine Hand. Noch ein weiterer tiefer Blick zwischen uns, bevor sie sie nimmt und sich mir völlig anvertraut. Ich bringe sie sicher über die rutschige Platte. Auf der anderen Seite angekommen ziehe ich sie über einen Spalt zu mir her. Wir stehen ganz dicht beieinander. Laura atmet schnell, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, sieht zu mir auf und bedankt sich.
Mit der vertrauten Selbstverständlichkeit einer eingespielten Seilschaft reicht sie mir auf dem weiteren Weg an schwierigen Stellen ihre Hand oder presst sich dicht an mich, wenn es eng und rutschig wird. Ihre Kraft lässt nach, das spüre ich deutlich, immer öfter ist sie auf mich angewiesen.
Wir sprechen kaum, müssen uns auf den Weg konzentrieren, aber Worte sind auch nicht notwendig. Die Blicke, die wir wechseln, reichen aus.
Ich bin überrascht von der Wendung, die der Tag genommen hat – die mein Leben gerade nimmt. Oben auf dem Gipfel hatte ich mich entschieden, weiterhin der Beschützer der Schwachen zu sein, weiterhin für Menschen auf Schlachtfelder zu ziehen, die es selbst nicht können. Und nun stellt mir Gott oder das Schicksal oder sonst eine höhere Macht dieses Mädchen an die Seite und sagt: Pass auf sie auf. Sie muss beschützt werden. Sie ist für dich allein.
Nie zuvor erschien mir mein Leben sinnvoller.
Nach zwei Stunden hartem Abstieg erreichen wir einen Trampelpfad. Er führt weniger steil durch Latschenkiefernfelder bis zur Höllentalangerhütte hinab. Der Weg ist schmal, wir müssen hintereinandergehen. Laura geht vorweg. Ein im Regen ausgesetzter Welpe hätte nicht mitleiderregender aussehen können. Zugleich finde ich sie aber auch erotisch. Es verschlägt mir jedes Mal den Atem, wenn sie ihr nasses Haar nach hinten streicht und das Gummiband um den Pferdeschwanz straff zieht. Die Anmut dieser Bewegung ist unvergleichlich.
Wir erreichen die Hütte. Sie ist noch geöffnet. Warm scheint das Licht durch die kleinen Butzenfenster. Es lockt uns, die Wärme lockt uns, doch wir bleiben vor der Hütte stehen und sehen uns an.
»Willst du ins Trockene?«, frage ich sie.
»Will ich, ja, aber nicht in die Hütte«, antwortet sie. Da ist ein Unterton in ihrer Stimme, bei dem sich mein Magen zusammenzieht.
»Warum bist du allein unterwegs?«, fragt sie mich unvermittelt.
»Weil ich heute Einsamkeit gebraucht habe.«
»Und die habe ich gestört … tut mir leid.«
Ich nehme meinen Mut zusammen, gehe einen Schritt auf sie zu, spüre ihre Wärme. Tatsächlich dampfen wir beide von der Anstrengung.
»Aber genau zum richtigen Zeitpunkt«, antworte ich.
Sie leckt sich mit der Zungenspitze einen Regentropfen von der Oberlippe.
»Ich würde gern für einen Moment in die Kapelle dort drüben gehen. Ich bete immer, wenn ich heil von einem Berg herunter bin«, sagt sie und deutet mit dem Kinn auf die andere Seite des Flussbettes.
Ein schmaler Metallsteg führt zu einer kleinen weißen Kapelle mit rotem Schindeldach. Sie steht dort auf einem grünen Fleck zwischen all dem Fels und Geröll, wirkt surreal und mystisch.
Wie alles an dieser Szene.
Ich begreife, was Laura will.
»Gute Idee, warum nicht«, sage ich und gehe voraus.
Teil 6
Die Klammjagd
S ie gehen nicht allein da rauf«, rief Franz Leitenbacher.
»Wer sollte mich aufhalten«, entgegnete Roman.
Das war keine Frage, sondern die Zementierung seines Entschlusses. Er trug bereits seine Bergausrüstung: Alpinstiefel, Wetterschutzkleidung, Handschuhe, Schneebrille und einen Ersatzrucksack mit Erste-Hilfe-Set, Ersatzkleidung, einem Dreißig-Meter-Seil sowie Alarmierungsausstattung.
»Hören Sie auf mit dem Blödsinn«, fuhr der Kommissar ihn an. »Sie haben doch gesehen, wozu der Täter in der Lage ist.«
Sie befanden sich in Romans Laden. Auf der Straße vor dem Grundstück standen mit eingeschaltetem Blaulicht Rettungswagen, Notarzt und Polizeifahrzeuge. Sie alle waren gekommen, um zu helfen. Doch sie waren zu spät. Auch Leitenbacher, der als Erster am Tatort eingetroffen war, war zu spät gewesen.
Leitenbacher hatte ihn zurückhalten wollen, doch Roman hatte den Kommissar beiseitegestoßen und war durch den Laden in seine Wohnung
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