Höllenzeit
Begriff.
Es ging nicht an, daß sich Bruder Shiram gegen mich wehrte, denn wir brauchten ihn noch als Informanten über die angedrohte Höllenzeit, deshalb redeten Ignatius und Bentini auf ihn ein und schafften es, ihn zu beruhigen.
Für ihn war alles anders geworden. Er lag nicht mehr in seinem Bett, sondern saß auf dem Stuhl mit dem Gesicht zu einem der Fenster, und er konnte nach draußen schauen. Diese Stellung hatte er gewollt. Die Hände hielten die Lehnen fest, der Blick glitt durch die Scheibe. Er schaute hinaus in die Natur, wo alles so anders war, so weit, so frei, doch er mußte hier hinter den Mauern bleiben.
Der Himmel hatte sein Blau längst verloren. Die großen Schatten hielten ihn bedeckt. Dämmerung kroch über das Land. Die Temperatur war wieder gefallen, und aus den großen Schneeinseln hatten sich Eiskrusten gebildet, die in dunklen Blautönen schimmerten wie kalte Spiegelflächen.
Mir war aufgefallen, daß Shiram starr durch das Fenster sah, als hätte er in der Weite des Landes irgend etwas Entscheidendes entdeckt. Er sah, daß ich neben ihn getreten war, schaute nach links und duckte sich dann zusammen. Seine Hände umfaßten die Stuhllehnen noch härter. Wenn er atmete, keuchte er.
Ich fragte ihn danach, was er spürte und weshalb er aus dem Fenster schaute.
»Ich will sie sehen.«
»Wen?«
»Die Gefahr, die Hölle mit ihren Boten. Sie sind hier, ich weiß es. Sie halten sich noch versteckt. Sie haben mir nicht verziehen, daß ich sie verriet. Sie werden nicht aufgeben. Ich bin ein Verräter, der zuviel weiß.«
»Was wissen Sie, Bruder Shiram?«
»Ich kann es nicht sagen«, erwiderte er spontan.
»Warum nicht?«
»Ich habe es vergessen!«
Sollte ich ihm glauben? Nein, nicht direkt. Er konnte insofern recht haben, daß er sein Wissen verdrängt hatte, oder daß andere ihm eine Blockade errichtet hatten. Ich aber war gekommen, um die Blockade zu brechen. Die Chance, mehr über die Pläne der Kreaturen der Finsternis zu erfahren, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Deshalb griff ich zu dem Mittel, das mir half.
Ich holte das Kreuz hervor, und ich tat es so, daß er es auch sehen konnte.
Sein Gesicht zeigte einen mißtrauischen Ausdruck. Er sah es schließlich, wie es von der Kette herab nach unten pendelte und sich Lichtstrahlen auf dem Silber fingen, die zu Reflexen wurden, als wollten sie an verschiedenen Stellen Zeichen setzen.
Father Ignatius und der Monsignore waren zurückgetreten. Sie wollten jetzt mir das Feld überlassen, und ich trat so nahe wie möglich an den Verletzten heran.
Er hockte in seinem Stuhl und hatte sich mit dem Rücken hart gegen die Lehne gepreßt. Dabei machte er den Eindruck eines Mannes, der zu fliehen versuchte, es aber wegen des Drucks in seinem Rücken nicht schaffte. Er mußte bleiben.
»Was… was… ist das?«
»Nur ein Kreuz!«
»Ich kenne es. Aber ich will es nicht.«
»Es wird Ihnen helfen«, sagte ich mit leiser Stimme, die gleichzeitig auch beruhigend klang. »Sie werden es überstehen, das Grauen wird an Ihnen vorbeigehen. Es wird Sie verlassen, und Sie werden wieder den Weg zurück finden.«
Er glaubte mir nicht, das konnte ich ihm ansehen. Er suchte nach einem Ausweg, ohne einen zu finden. Dieser Mann steckte in der Klemme, und das wußte er.
Dennoch reagierte er unterschiedlich, eben den beiden Seelen, die in seiner Brust wohnten, entsprechend. Während er mit dem normalen Auge das Kreuz auch normal anschaute, geschah es mit seinem anderen. Bisher hatte ich es als tot angesehen. Die Umgebung war verbrannt worden, das Auge war aus der Höhle getreten und stand etwas vor. Es sah aus wie ein weißer, schleimiger Klumpen mit einer für meinen Geschmack sehr großen Pupille. In der helleren Gallertmasse sah sie aus wie ein dunkler Fleck.
»Haben Sie Angst?« fragte ich.
»Vor dem Kreuz?«
»Ja.«
»Weiß nicht. Es ist Hoffnung, aber auch Schrecken.« Er stöhnte auf, denn er spürte, daß es etwas in ihm gab, das dieses Kreuz einfach anwiderte. Es wurde von dieser negativen Kraft abgelehnt, doch darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier mußte was geschehen, bevor es zu spät wurde.
Ich brachte das Kreuz näher an sein Gesicht.
»Weg!« schrie er. »Weg damit!«
Den Gefallen tat ich ihm nicht. Im Gegenteil, es näherte sich immer mehr dem Gesicht.
Er riß den Mund weit auf und schnappte nach Luft. Beinahe wären seine verbrannten Lippen an der linken Seite noch gerissen, und plötzlich fegte aus seinem Mund
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