Höllische Versuchung
kleiner Junge ist dort draußen mit mindestens zwei Vampiren. Wir wissen nicht einmal, ob er noch am Leben ist.«
Mein Herz hämmerte wie wild. »Du verstehst es nicht. Ich verliere die Kontrolle, wenn ich sie bin.«
»Bitte, Andrea«, sagte er. »Uns rennt die Zeit davon.«
Ich schloss die Augen. Er hatte ja recht. Wir mussten den Jungen retten und die Äpfel vor Lynn in Sicherheit bringen. Ich musste …
Ich zog mich aus und streckte meine Gedanken nach dem Tier in mir aus. Lächelnd kam sie herausgesprungen, durchströmte meine Arme, meine Beine, meinen Rücken, verlieh mir ihre Kraft. Meine Knochen streckten sich, meine Muskeln schwollen an. Ich kam mir entblößt und nackt vor.
Die Gestaltwandler konnten sich zwischen Mensch, Zwischengestalt und Tier entscheiden. Mir hingegen standen nur zwei Möglichkeiten offen: mein menschliches Ich und mein geheimes Ich.
Mit rot glühenden Augen lief Raphael los.
Ich fischte nach meiner Armbrust, ließ sie aber sogleich wieder fallen. Meine Krallen waren viel zu lang. Krallen und Zähne würden als Waffen reichen müssen. Ich schnappte mir das kleine grüne Auto und verbarg es in meiner Tatze.
Raphael war nur noch ein Schatten in der Dunkelheit. Das Laufen fühlte sich an wie Fliegen, leicht und mühelos. Freudig arbeiteten meine Muskeln und bald schon hatte ich Raphael eingeholt. Gemeinsam preschten wir durchs Unterholz, zwei humanoide Albtraumwesen, deren Stimmen nur ein Flüstern im Wind waren.
»Ich sehe dich gar nicht.«
»Du sollst mich auch gar nicht sehen.« Ich wählte meinen Weg mit Absicht so, dass er nur hier und da mal einen Blick auf mich erhaschen konnte.
»Versteck dich nicht vor mir«, bat er.
Ich ignorierte ihn.
Auf einmal kam er durchs Unterholz gesprungen und ich hatte keine Möglichkeit mehr, mich zu verbergen. Er sah alles von mir: meine Arme und Beine, mein Gesicht, das weder ganz Hyäne noch ganz Mensch war, meine Brüste …
»Du bist so schön«, flüsterte er, als er an mir vorbeipreschte.
»Du bist ja krank«, entgegnete ich.
»Bei dir sind Mensch und Tier auf geradezu perfekte Weise vereint. Du bist wohlproportioniert, elegant und stark. Nach genau so einer Bestienform streben wir alle. Wieso soll das krank sein?«
»Ich bin ein Mensch!«
»Ich doch auch. Du brauchst dich nicht vor mir zu verstecken, Andrea. Für mich bist du wunderschön.«
Niemand, weder Mensch noch Gestaltwandler, ja nicht einmal meine eigene Mutter, hatten mir jemals gesagt, dass ich in meiner Bestienform schön sei. Die Frau in mir verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte.
Die Kilometer flogen nur so vorbei. Wir passierten ein Haus, das nur als Schemen erkennbar war. Die Bäume teilten sich, das Unterholz wurde spärlicher und wir hatten eine Lichtung erreicht. Ein goldenes Wehr glomm vor uns auf, eine schimmernde Wand versperrte den Weg.
Im Inneren des Wehrs kauerte ein dunkelhaariger Junge reglos am Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Hinter ihm im Gras lag ein toter Vampir mit zerschmettertem Schädel. Links davon vollführte eine Schlange ihre letzten Zuckungen. Sie war ungewöhnlich groß und hatte sich um den Hals eines zweiten Vampirs geschlungen. Auch er war tot. Zerquetschte Halswirbelsäule. Die Schlange troff von seinem Blut, und sobald sie fester zudrückte, umspülte eine neuerliche rote Flut ihre Schuppen.
Weiße, in Stein gehauene Säulen bildeten einen Kreis um einen jungen Apfelbaum. Vier gelbe Äpfel hingen an seinen Zweigen. Der fünfte Apfel jedoch lag angebissen im Gras neben der Hand einer dunkelhaarigen Frau. Sie war zusammengebrochen. Ihr grässlich aufgetriebener Unterleib hatte längst die maßgeschneiderte Hose gesprengt.
Oh, nein. Sie hatte schon davon gegessen. Wir kamen zu spät.
»Nun sieh sich einer an, was du gemacht hast.« Ein Mann kam auf uns zu, die Augen auf Spinnen-Lynn geheftet. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Äpfel in Ruhe lassen?«
Raphael bleckte die Zähne und seine Nackenhaare stellten sich auf.
Der Mann war hochgewachsen und breitschultrig. Dunkle Bartstoppeln sprenkelten sein Gesicht. Er trug ein weißes T-Shirt, alte Jeans und gelbe Arbeitsstiefel. Um die klobigen Schultern spannte ein Flanellhemd. Er sah aus wie ein Kerl vom Land, der nach einer Veranda mit Schaukelstuhl und Eistee Ausschau hielt. Zu uns gewandt sagte er: »Hallo.«
Irgendwie kam mir das alles unwirklich vor. »Wer sind Sie?«, fragte ich.
»Ich bin Teddy Jo.«
»Sie waren es, der mich wegen Raphael und
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