Hörig (German Edition)
gehen und die Werkstatttür hinter sich zu schließen.
Dass der Dicke im Wohnzimmer schlief, musste sie nicht eigens erläutern. Dessen Schnarchen war gut zu hören. Sie wollte flüsternd erklären, dass Heiko und die Retlings im Obergeschoss waren. Aber schon im Ansatz unterbrach Ed sie mit einem beruhigenden Nicken.
Er wusste das. Er wusste alles. Und dann sah sie, dass er nicht alleine gekommen war. Hinter ihm wimmelte es nur so von Männern mit Helmen und Brustschilden. Mitglieder vom Spezialeinsatzkommando, wie man sie sonst nur in Filmen sah. Einige trugen Schlagstöcke, andere hatten Gewehre bei sich. Und auf den Gewehren waren Zielfernrohre und Nachtsichtgeräte angebracht. Sie waren auf alles eingerichtet. Und am besten war noch die Zuversicht auf ihren Gesichtern. Wie sie Ed anschauten und auf sein Kommando warteten.
Er gab das Zeichen erst, nachdem er sie behutsam zur Kellertreppe geschoben und sich vergewissert hatte, dass sie auch tatsächlich nach unten ging. Dann hob er die Hand, und rings herum wurde alles lebendig.
Es mussten mehr als hundert sein, und sie kamen völlig lautlos, füllten die Diele, schwärmten ins Wohnzimmer, betäubten den Dicken, bevor der begriff, wie ihm geschah. Sie sah das alles, obwohl sie in der Werkstatt war, ihr Ohr gegen das Türblatt drückte und doch nichts anderes hörte als den eigenen Atem und den wahnsinnigen Herzschlag.
Und Ed stieg hinauf in den ersten Stock, ganz allein. Er musste das tun. Denn er war der Einzige, der es tun konnte. Keiner von den Polizisten hätte es geschafft, dem Blick standzuhalten, der dort oben auf sie wartete.
Heikos Blick! Er schwebte dicht über ihr. So sanft, so weich und liebevoll. Und seine Stimme klang so zärtlich: «Gut geschlafen, Püppi?»
Es war alles so real. Heikos Atem an ihrer Wange, als er sich tiefer beugte. Die Spur von Feuchtigkeit auf ihrer Stirn, als seine Lippen sie berührten. Der herbe Geruch seines Rasierwassers, vermischt mit dem Duft von Kaffee. Und sein Flüstern: «Na komm, du Murmeltier, wach auf, es gibt Frühstück. Den Kaffee hab ich persönlich für dich gemacht. Der weckt selbst Tote auf.»
Tote auf! Auf in den Kampf! Macht euch bereit zum Sterben!
Die Worte zuckten wie spitze Dolche durch ihr Hirn. Sie musste Ed warnen. Er war in die falsche Richtung gegangen. Dabei hätte Ed es doch wissen müssen. Teufel hielten sich immer unten auf. Teufel kamen schließlich aus der Unterwelt, hausten dort im Höllenfeuer. Und sie war mittendrin. Und Satan stand vor ihr.
Die Nacht hatte etwas in ihr zerbrochen. Die Erkenntnis, dass nun Morgen war und sie nicht mehr schlief, nicht mehr träumte, zerbrach noch den Rest. Sie konnte sich nicht rühren. Ed war nicht gekommen. Ed, der ihr sieben Jahre lang die Zusammenhänge erklärt hatte, damit sie verstand. Ed hatte nicht verstanden. Es war ihr unmöglich, diese Erkenntnis von jetzt auf gleich zu akzeptieren.
«Was ist denn, Püppi?», fragte Heiko. «Immer noch nicht ganz wach? Na, komm!» Diese Stimme mit all ihren feinen Untertönen! Besorgnis, eine Spur von Unsicherheit und so viel Liebe, so viel Sanftheit.
Zwei Hände griffen unter ihre Achseln und zogen sie von der Liege in eine aufrechte Position. Die Hände waren so heiß wie die Glut in der Esse. Und sie stanken wie das Zimmer, in dem ihre Mutter vor acht Monaten gestorben war. Sie hatte den Geruch immer noch in der Nase, rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht und über die Stirn. Dort war immer noch ein Hauch von Feuchtigkeit, den seine Lippen hinterlassen hatten. Er musste sich vorher über die Lippen geleckt haben – wie der Dicke gestern. Die Vorstellung brachte sie fast um.
Sie konnte kaum stehen. Heiko half ihr zum Arbeitstisch hinüber, drückte sie auf den Stuhl nieder. Das Tablett auf dem Tisch war voll mit allem, was zu einem guten Frühstück gehörte. Sogar zwei Gläser Orangensaft hatte er mitgebracht.
«Ich dachte, wir frühstücken zusammen», sagte er.
«Ich muss zuerst aufs Klo.» Ihre Stimme war rau, ganz wund gescheuert und aufgekratzt von den Scherben im Innern. Ed war nur eine Fassade. Ed existierte gar nicht. In all den Jahren hatte sie sich auf eine Illusion verlassen, an ein Trugbild geklammert. Nur der Teufel war Wirklichkeit. Und grausam war er, quälte sie mit seinen sanften Augen, gaukelte ihr Sicherheit und Liebe vor. Und so viel Verständnis.
«Natürlich, Püppi», sagte er, während sie vom Stuhl aufstand und zum Waschraum ging.
Als sie Minuten später
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