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Hörig (German Edition)

Hörig (German Edition)

Titel: Hörig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Verantwortungsgefühl ausschalten. Irgendwo in ihrem Hirn wisperte ein dünnes Stimmchen: «Versuch es wenigstens. Du musst ja nicht losrennen und brüllen. Du kannst ganz leise sein. Du kannst die Tür anlehnen, wenn du hinausgehst. Dann kannst du zurückkommen.»
    Vielleicht gehörte das Stimmchen zu ihrem Selbsterhaltungstrieb. Ein Trieb war es jedenfalls, und er schob sie unaufhaltsam zur Haustür. Sie registrierte nicht einmal, dass sie die Füße bewegte, die Hand nach der Klinke ausstreckte, diese niederdrückte. Dann hätte sie beinahe hysterisch aufgelacht. Abgeschlossen! Natürlich abgeschlossen! Etwas anderes wäre auch zu dämlich gewesen.
    Wieder schwappte eine Welle von Panik durch ihren Körper, trieb den Blutdruck noch ein wenig höher, machte die Beine schwer und verstärkte die Wattepolster in den Ohren. Tief durchatmen! Einmal, zweimal, dreimal, bis die Beine ihr wieder gehorchten und der Druck in den Ohren nachließ.
    Dann ging sie zögernd auf die Wohnzimmertür zu, blieb wieder stehen, als sie den Türrahmen erreichte und das Atmen hörte. Das war das Kettenrasseln, eingebildet hatte sie sich dieses Geräusch nicht. Der Dicke schlief auf der Couch und schnarchte. Sehen konnte sie ihn nur wie einen schwarzen Klumpen.
    Sie kannte die Einrichtung des Zimmers, hatte alles deutlich vor Augen. Die beigefarben bezogene Sitzgarnitur mit den beiden Tischen und der Stehlampe in der Ecke. Ein üppiges Arrangement aus Topfpflanzen bei der Terrassentür, ein zweites, kleineres dicht bei der Tür, neben der sie stand. Und das alte Tastentelefon auf dem Beistelltisch neben der Couch. Auch eine Möglichkeit, Hilfe zu rufen.
    Doch um den Apparat zu erreichen, hätte sie um den größeren Tisch und die gesamte Sitzgruppe und damit um den rasselnden Fleischberg herumschleichen müssen, der dann zwischen ihr und der Flurtür gewesen wäre, wenn er aufwachte.
    So verlockend der Gedanke an das Telefon auch war, er war ebenso sinnlos. Zum einen wagte sie sich nicht in das Zimmer hinein, aus Furcht, trotz aller Vorsicht irgendwo anzustoßen und das fette Ungeheuer aufzuwecken. Zum anderen: Selbst wenn sie es bis zu dem kleinen Tisch schaffte – den Hörer abnehmen, eine Nummer eintippen, die Situation schildern, um Hilfe bitten und die Adresse durchgeben, das verursachte mehr Geräusche, als sie sich leisten konnte.
    In ihrem Hinterkopf spulte eine Szene ab, die sie mal in einem Film gesehen hatte. Da saß eine Polizistin in der Notrufzentrale und forderte eine Frau auf, lauter zu sprechen. Die Frau konnte ihre Lage aber nur wispernd schildern, weil ein Vergewaltiger in ihre Wohnung eingedrungen und auf der Suche nach ihr war. Und sogar das Wispern führte den Kerl zu dem Wandschrank, in dem die Frau sich versteckt hatte.
    Sie trat einen Schritt von der Tür zurück. Der Schnarchsack rasselte weiter mit Ketten. Ob Heiko oben im Gästezimmer genauso fest schlief? Ob sie es wagen konnte? Die Treppe hinauf, zur Tür des Schlafzimmers. Leise anklopfen und sich flüsternd bemerkbar machen oder nur horchen? Vielleicht schnarchte Albert Retling auch. Vielleicht bewegte Alwine Retling sich im Schlaf, und die Bettfederung knarrte.
    Irgendein Geräusch, aus dem sie ableiten könnte, dass die beiden am Leben waren, hätte ihr genügt. Vielleicht machte es sie mutig und kaltblütig genug, sich in der Küche mit einem Messer zu bewaffnen und dem Dicken die Kehle aufzuschlitzen. Zustechen bei der Masse an Fett schien ihr keine sichere Methode, den Widerling ins Jenseits zu befördern. Er wäre garantiert nur verletzt und würde losbrüllen oder quieken wie ein angestochenes Schwein.
    Obwohl ihr der Gedanke an ein Messer kam, setzte sie ihn nicht sofort um, weil sie zu sehr auf das Schlafzimmer und die geräuschlose Bewältigung der Treppe fixiert war. Sie trat ganz außen auf, um verräterisches Knarren zu vermeiden. Tastete mit den Fingern jede Stufe ab, suchte einen Winkel, der genug Platz für die Zehenspitzen bot, und zog sich dann mit beiden Händen am Treppengeländer mehr in die Höhe, als dass sie hinaufstieg, um so wenig Druck wie möglich auszuüben.
    Auf halber Höhe hörte sie den Dicken immer noch rasseln. Dann war sie oben und vergaß den Fettwanst vorübergehend. Zu sehen war im Obergeschoss absolut nichts. Sie wagte sich zwei Schritte vor, wartete mit angehaltenem Atem auf das Knarren des Fußbodens. Als das ausblieb, riskierte sie noch einen dritten Schritt. Danach berührten ihre ausgestreckten Fingerspitzen

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