Hörig (German Edition)
zurückkam, stand ein zweiter Stuhl beim Arbeitstisch. Er hatte ihn für sich aus der Küche geholt, hatte auch bereits die Tassen gefüllt. Doch zuerst schob er ihr eins von den Gläsern zu.
«Hier, Vitamine», sagte er. «Schön austrinken.»
Ehe sie nach dem Glas greifen konnte, wurde oben die Stimme des Dicken laut: «Verfluchter Mist.» In der Diele schepperte es.
«Was ist passiert?», rief Heiko, stand wieder auf und ging bis zur Treppe.
«Nix», kam es von oben zurück. «Nur ein Löffel. Ich bin halt kein Kellner.»
Heiko kam zurück und lächelte: «Es passt ihm nicht, dass er die Retlings bedienen muss. Aber das geht nun mal nicht anders.»
Der Saft war kühl und erfrischend, weckte drei oder vier der winzigen Lebensgeister auf, die zwischen den Scherben die Nacht überstanden hatten. Während sie schluckweise trank, stellte Heiko fest: «Du scheinst nicht gut geschlafen zu haben.»
Sie hatte gar nicht geschlafen, war nur gestorben, stückweise, wie ihre Mutter vor acht Monaten. Ihr Vertrauen in Ed war gestorben, der unbedingte Glaube an Eds Stärke, an sein Wissen, seine Überlegenheit und die Sicherheit, die er ihr damit gab. Davon hatte sie gelebt in den vergangenen Jahren. Aber das konnte sie Heiko kaum erklären, sagte stattdessen: «Ich habe irgendwas Blödes geträumt, ich weiß gar nicht mehr, was.»
«Aber ich weiß es», sagte er mit einem kleinen Lächeln, das ihr wie eine Speerspitze zwischen die Rippen fuhr.
Sie fürchtete bereits, im Schlaf laut gesprochen zu haben, da fuhr er fort: «Wir beide waren oben im Schlafzimmer. Es war phantastisch, Püppi. Es war genau so, wie wir es uns immer vorgestellt haben, sogar besser.»
Während er ihr von seinem Traum erzählte, von Leidenschaft und Raserei sprach, das Spiel ihrer Muskeln schilderte, so wie er es vor Jahren während einer Busfahrt getan hatte, bestrich er fürsorglich eine Scheibe Brot mit Butter und Konfitüre und schob ihr den Teller zu. Dann belegte er für sich selbst eine Scheibe Brot mit dick geschnittenem Dosenfleisch und biss einmal ab. Er kaute, schluckte, sprach weiter, beschrieb ihr den Wahnsinn.
Bis wir verrückt werden.
Vielleicht war sie bereits verrückt geworden. Sie wusste es nicht genau. Ed hätte es vermutlich feststellen können, aber Ed war nur eine Farce gewesen. Sie griff ebenfalls nach ihrem Brot, biss lustlos und ohne Appetit ein Stück ab, kaute darauf herum. Was Heiko sagte, hörte sie kaum. Sie wurde erst aufmerksam, als das Wort Koffer fiel.
«Ich bring ihn dir gleich runter», sagte er. «Gestern Abend habe ich nicht mehr daran gedacht, ihn aus dem Auto zu holen. Das hat Peter eben erledigt. Du willst dich sicher waschen und umziehen.»
Da nickte sie, schaffte es sogar zu lächeln. «Vor allem waschen und Zähne putzen. Am liebsten würde ich duschen, ich fühle mich so klebrig und hasse es, wenn ich verschwitzt bin. Ich hätte mich gestern Abend noch waschen müssen, aber ich war einfach zu müde.»
Plötzlich war ihr so leicht, vor allem im Kopf. Die Gedanken krochen nicht mehr wie Schnecken durch die Hirnwindungen, jetzt flogen sie umher wie eine Horde munterer Spatzen. Sie konnte es kaum ertragen, noch länger auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, wurde ungeduldig, als Heiko sich eine Zigarette anzündete.
Er ließ sich so viel Zeit, betrachtete die Glut zwischen den einzelnen Zügen, seufzte genießerisch und sagte: «Die erste morgens schmeckt immer am besten.»
«Das kann ich nicht beurteilen.»
«Nie versucht?», fragte er, legte den Kopf ein wenig zur Seite. Dann lächelte er. «Ist auch nichts für kleine Mädchen. Ich hab ja damals schon gesagt, ich liebe es, wenn kleine Mädchen vernünftig sind und genau wissen, was gut für sie ist.»
Da schwang etwas mit, das ihren Herzschlag stocken ließ. Er wusste es längst! Er hatte die Pistole gefunden und wartete auf ihre Erklärung. Vielleicht war es der Instinkt, der Wille zu überleben, der ihr zuflüsterte: Deine letzte Chance, Patrizia, die allerletzte. Sag etwas. Sag einfach:
«Ach, bevor ich es vergesse, Heiko. Ich habe eine Überraschung für dich im Koffer. Die Pistole meines Mannes. Gestern in der Aufregung habe ich nicht daran gedacht, sie dir zu geben. Ob sie geladen ist, weiß ich nicht, aber ich nehme es an. Ich dachte, ich steck sie mal ein. Vielleicht kannst du sie gebrauchen.»
Natürlich brachte sie kein Wort über die Lippen. Und vielleicht war auch das Instinkt oder Überlebenswille, sich an die allerletzte Hoffnung zu
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