Hörig (German Edition)
tatsächliche Beweggründe für diesen Gewaltexzess zu erläutern. Eine rasche Festnahme. Das klang hirnrissig, solange man nicht wusste, warum Schramm es darauf angelegt hatte, schnellstens verhaftet zu werden. Und das wusste Edmund nicht.
Stattdessen glaubte er zu wissen, worin sich Kleibers Desinteresse begründete: in der Tatsache nämlich, dass der verzweifelte Ehemann einer Berufsgruppe angehörte, die dem behäbig wirkenden Mann hinter dem Schreibtisch wahrscheinlich schon mehr als eine Rechnung durchkreuzt hatte.
Darüber hinaus fühlte Kleiber sich wohl durchschaut, als Edmund in etwas deutlicherem Ton feststellte, dass er doch selbst ein unübersehbares Interesse an Schramm zeigte. Warum sonst regte er sich darüber auf, dass ihm dessen Entlassungstermin nicht rechtzeitig bekannt gegeben worden war?
Wenn ein erfahrener Kriminalhauptkommissar! – Edmund schaffte es, diese Schmeichelei so anzubringen, dass sie eher wütend als nach einem willfährigen Kompliment klang –, wenn also ein erfahrener Kriminalhauptkommissar sich darüber dermaßen aufregte, dass er mit der Faust auf den Tisch schlug und seinen Stift zerbrach, war anzunehmen, dass Kleiber noch ein Hühnchen mit Schramm zu rupfen hatte. Wahrscheinlich wusste Kleiber genau, dass er es mit einem raffinierten und gefährlichen Mann zu tun hatte, den man besser im Auge behielt.
«Ach wo!» Kleiber winkte ab und lachte herzhaft über den
gefährlichen Mann
. «Für gefährlich habe ich den nie gehalten. Raffiniert, das ja. Und was das Hühnchen angeht, nennen Sie es von mir aus gekränkte Eitelkeit. Aber ich lasse mich nun mal nicht gern von einem kleinen Gauner an der Nase herumführen wie ein Tanzbär.»
Kleiner Gauner! Sie sprachen wirklich nicht über denselben Mann. Für Kleiber war Schramm nur ein verhinderter Macho, ein armes Würstchen, das sich seine Selbstbestätigung bei unerfahrenen jungen Mädchen und älteren Männern holen musste.
Für Edmund war er der Feind. Patrizias Untergang. Ein eiskalt planender und blutrünstiger Dämon, der einen wehrlosen Mann fast zu Tode prügelte und einem jungen Mädchen die Seele stahl, es zu einem willenlosen Geschöpf machte, das nicht mehr unterscheiden konnte zwischen Gut und Böse.
Aber wenn Kleiber sich wie ein Tanzbär gefühlt hatte, lohnte sich ein Versuch vielleicht doch.
Es fiel Edmund zunehmend schwerer, Ruhe zu bewahren und die Geduld aufzubringen, um Kleiber doch noch zu erläutern, was ihm vor Jahren in den Aussageprotokollen aufgefallen war. Zum Beispiel, dass Schramm sich nach dem Überfall seelenruhig daheim ins Bett legte. Warum war er nicht sofort abgehauen? Er hätte etliche Stunden Vorsprung gehabt, in den Niederlanden untertauchen können, dort kannte er sich doch aus. Aber nein! Schramm nahm erst mal eine Mütze voll Schlaf.
Kleiber hörte zu, machte aber mit gelangweilter Miene deutlich, dass er den Text kannte, Wort für Wort. Immerhin hatte er damals die ganze Ungeheuerlichkeit zu Protokoll genommen.
Und blöd war er nicht, war er damals nicht gewesen und in den letzten sieben Jahren auch nicht geworden. Für Schramm – meinte Kleiber – sei es immer nur um das Mädchen gegangen. Gut möglich, dass er in der Goldschmiede von ihr gesprochen hatte. Wie hieß es so schön? Wovon das Herz voll ist, davon läuft der Mund über. Da rutschten einem im Eifer des Gefechts schon mal ein paar Sätze heraus, die man sich besser verkniffen hätte.
Dass Schramm sich nicht umgehend abgesetzt hatte, begründete sich für Kleiber auch nur in der Liebe zu Patrizia. Ein Mann, der mit einem Mädchen nichts im Sinn hatte, nahm sich nicht so viel Zeit, immerhin ein paar Monate. Und in den ersten Wochen war nicht damit zu rechnen gewesen, dass Albert Retling seiner Auszubildenden jemals die Hausschlüssel überlassen würde. Da musste von Schramms Seite mehr im Spiel gewesen sein, bedeutend mehr.
Nur hatte Kleiber ihm das nicht beweisen können. Aber es war auch nicht Aufgabe eines Kriminalbeamten, einem Ganoven Gefühle nachzuweisen. Und so wichtig war Patrizia für die Polizei nicht gewesen. Eine Mitwisserin, dafür hätte Kleiber seine Hand ins Feuer gelegt, aber sie war minderjährig. Und dieses psychiatrische Gutachten hatte ihn daran gehindert, sich ausführlich mit ihr zu unterhalten.
Dabei war es gar nicht darum gegangen, sie neben Schramm auf die Anklagebank zu bringen. Da hätte sie ja auch niemand hingesetzt, für sie wäre die Jugendstrafkammer zuständig gewesen. Und für
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