Hörig (German Edition)
sie warten, damit niemand, der ihrem Vater bei nächster Gelegenheit davon erzählen könnte, sah, wie sie in sein Auto stieg.
«Kluges Mädchen», lobte Heiko und küsste sie zum Abschied, nur mit den Lippen, ein traumhaft sanfter Kuss. Dann verschwand er im Nebel, ehe eine der beiden jungen Frauen ihn zu Gesicht bekam.
Schon am Montagabend stand sein Auto nahe der Bushaltestelle in Köln-Raderthal, von der aus sie mit dem Bus nach Sülz fuhr, wo sie in die Straßenbahn umstieg, die sie zum Bahnhof nach Ehrenfeld brachte. Für das letzte Wegstück benutzte sie die S-Bahn. Es war ein umständlicher Weg zur Arbeit und zurück, doch das hatte sie bisher nicht gestört.
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag war Heiko ebenfalls da. Jeden Abend fuhr er sie heim, vorsichtshalber allerdings nicht bis zu ihrem Elternhaus. Jedes Mal fragte er, wie ihr Tag gewesen sei. Dafür interessierte sich sonst kein Mensch. Und jedes Mal bekam sie zum Abschied einen dieser traumhaft sanften Küsse – nur mit den Lippen.
Für einen Mann von fünfundzwanzig Jahren, der sie schon beim ersten Tanz seinen Zauberstab spüren ließ und anschließend von seiner Lust sprach, fand sie das arg zurückhaltend. Sie hätte zumindest den Kuss gerne mal etwas leidenschaftlicher gehabt – mit Zunge.
Wenn es noch eine Weile so weitergegangen wäre, hätte sie wohl eingesehen, dass Heiko Schramm doch nicht so traumhaft war, wie sie es in der Disco empfunden hatte, hatte Ed gesagt. Dann hätte sie die Beziehung wahrscheinlich beendet, ehe daraus solch ein Desaster geworden wäre. Den entscheidenden Fehler hätte ihr Vater gemacht, auch wenn der das niemals einsehen oder zugeben würde, hatte Ed gesagt und erklärt, sie habe nur reagiert wie jedes andere Mädchen ihres Alters.
Dass es unangenehme Fragen und endlose Vorträge geben würde, sobald ihr Vater Wind von ihrer ersten großen Liebe bekam, war ihr durchaus klar gewesen. Deshalb hatte sie in ihrem Tagebuch die erste Begegnung in die Wohngemeinschaft ihrer Schwester verlegt und Heiko mit allen charakterlichen Eigenschaften ausgestattet, von denen sie annahm, dass sie Gnade in den Augen ihres Vaters fanden.
«Gestern Abend habe ich den Mann kennengelernt, von dem ich schon so lange träume», hatte sie geschrieben. «Er kam zufällig vorbei, weil er nicht wusste, dass Dorothea und die anderen auf der Bowlingbahn waren. Wir haben uns so toll unterhalten, als würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen. Er verstand alles und schaute mich an, als könne er ganz tief in meine Seele blicken.» Und so weiter.
Sie wusste, dass ihre Mutter regelmäßig in dem Tagebuch las. Hin und wieder wurde sie auf etwas angesprochen, was sie geschrieben hatte. Wobei ihre Mutter stets behauptete, da ginge ihr gerade etwas durch den Kopf oder sie habe im Radio gehört, dass junge Mädchen heutzutage … und so weiter.
Sie wusste auch, dass Mutter mit Vater darüber sprach. «Wir müssen uns keine Sorgen machen, wenn sie bei Dorothea ist, Paul. Die feiern da keine wilden Partys. Patrizia passt wirklich nur auf die Kinder auf.» Das hatte sie selbst gehört.
Das Tagebuch stets bei sich zu tragen oder keine Eintragungen zu machen hätte erst recht Misstrauen geweckt. Aber eine zufällige Begegnung in der WG … Sie hatte sich vorgestellt, darauf aufbauen zu können, wenn ihre Mutter den entsprechenden Eintrag entdeckt hatte und fragte, wie es denn letzten Samstag beim Babysitten gewesen wäre.
Bei aller Vorsicht und Weitsicht hatte sie nur eines nicht erwartet und deshalb auch nicht bedacht: dass Heiko mit dem Auto sogar im abendlichen Berufsverkehr schneller war als die öffentlichen Verkehrsmittel. Hätte sie sich mal um zwanzig Minuten verspätet, wäre kaum jemand stutzig geworden. Es kam häufiger vor, dass ihr am Bahnhof in Ehrenfeld eine S-Bahn vor der Nase wegfuhr und sie auf die nächste warten musste. Aber dass sie seit Wochenbeginn regelmäßig etwas früher daheim eintraf, weckte den Argwohn ihres Vaters, der immer schon nachmittags nach Hause kam. Dann las er diesen Tagebucheintrag und zog völlig falsche Schlüsse.
Freitags bezog ihr Vater am frühen Abend Posten in der Nähe von Retlings Haus. Er sah sie zur Bushaltestelle laufen, sah sie in Heikos Auto steigen und folgte dem Wagen. Er schaute sich auch noch den Abschiedskuss in einer stillen Seitenstraße an und ließ sie beseelt das letzte Stückchen Heimweg antreten. In Empfang nahm er sie erst, als Heiko längst außer Sicht war.
Dann
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