Hörig (German Edition)
Regeln einer Psychotherapie, dafür umso wirkungsvoller.
Ursprünglich hatte Edmund sie damals gar nicht als Patientin annehmen wollen. Und wäre er schon im Vorfeld umfassend informiert worden, hätte er es rundweg abgelehnt, sie zu behandeln, und sie nie zu Gesicht bekommen. Aber der Kollege, der ihn darum bat, ein Facharzt für Psychiatrie, sagte nur: «Ich würde es selbst übernehmen, Ed, aber zeitlich schaffe ich das nicht. Ich kenne auch den Vater recht gut. Es ist vielleicht besser, wenn jemand mit der nötigen Kompetenz unvoreingenommen an die Sache herangeht.»
Die
Sache
war ein auf vierzig Kilo abgemagertes, völlig apathisches achtzehnjähriges Mädchen, mehr tot als lebendig. Tochter aus gutem Hause, in geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Die Familie lebte in Frechen-Königsdorf. Die Mutter war Hausfrau und hatte seit der Eheschließung nichts anderes mehr getan, als sich um Heim und Herd zu kümmern, den Ehemann und zwei Töchter zu umsorgen, ein bisschen Gartenarbeit war wohl auch noch dazugekommen. Der Vater war in gehobener Position beim Landschaftsverband Rheinland beschäftigt und zuständig für die Unterbringung psychisch Kranker. Darin begründete sich die Bekanntschaft mit Edmunds Kollegen – und dessen Widerwillen gegen das Ansinnen einer ambulanten Behandlung. Mit mangelnder Zeit hatte das wenig zu tun. Aber das begriff Edmund erst, als er schon mittendrin steckte in der Sache, geködert mit dem läppischen Kompliment seiner Kompetenz.
Zum Vorgespräch kam Paul Großmann allein. Auch dabei erfuhr Edmund kein Wort zu viel, hörte nur, dass Patrizia körperlich und geistig in einem kritischen Zustand sei. Den Worten ihres Vaters zufolge war sie einem Ganoven verfallen, der noch niemals einer geregelten Arbeit nachgegangen war.
«Schramm verdiente seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Drogenhandel», erklärte Paul. «Daraus machte er auch keinen Hehl. Den hätten Sie vor Gericht hören müssen. Ich verstehe die Anwälte nicht, die sich für solche Scheusale einsetzen können.»
Der Prozess gegen Heiko Schramm lag bereits drei Monate zurück. Ebenso lange bemühten sich Patrizias Eltern, der Selbstzerfleischung ihrer jüngsten Tochter ein Ende zu machen. Zweimal hatte sie bereits Tabletten geschluckt, zum Glück nur harmloses Zeug, mit dem sie sich Übelkeit und Kopfschmerzen eingehandelt hatte, aber nicht den ersehnten Tod.
Seitdem war sie keine Sekunde mehr ohne Aufsicht. Ins Bad ging sie nur noch in Begleitung ihrer Mutter. Nachts schlief sie zwischen ihren Eltern im Ehebett. Und beim Frühstück wechselten sie sich ab, Paul und seine Frau. «Ein Häppchen Toast, Patrizia, nur ein Häppchen, bitte, du musst doch etwas essen. Und ein Schlückchen Kakao. Jetzt mach den Mund auf, bitte.»
Wenn man ihr etwas in den Mund schob oder einen Becher an die Lippen hielt und sie inständig darum bat, aß und trank sie etwas. Aus eigenem Antrieb tat sie das nicht. Sie sprach auch nicht mehr, schien blind und taub für ihre Umgebung, hatte sich völlig in sich selbst oder sonst wohin zurückgezogen.
Paul Großmann hatte sich beurlauben lassen, weil seine Frau mit Patrizias Betreuung hoffnungslos überfordert war. Aber auch er war mittlerweile mit seiner Weisheit und seinen Nerven am Ende, wie er eingestehen musste.
«Sie besteht nur noch aus Haut und Knochen», erklärte er. «Ihre Regel hat ausgesetzt. Meine Frau traut sich kaum noch, sie anzufassen, aus Angst, ihr den Arm oder die Rippen zu brechen. Aber ich kann sie ja nicht unter die Dusche stellen.»
An diesem Punkt des Gesprächs wies Edmund zwar darauf hin, dass er der falsche Ansprechpartner sei. Wenn ihr Vater ihren Zustand nicht übertrieben darstellte, musste Patrizia Großmann umgehend in eine Klinik gebracht werden, allein schon um ihre körperliche Verfassung zu verbessern. Vierzig Kilo! Doch der Therapeut in ihm, der sich mehr für das Warum als für sonst etwas interessierte, fragte gleich anschließend: «Wurde sie missbraucht?»
Ein Ganove, der sein Geld nur
hauptsächlich
mit Drogenhandel verdiente, musste auch noch Nebeneinkünfte haben. Es war Edmund in Fleisch und Blut übergegangen, alles, was er hörte, auf Zwischentöne abzuklopfen und verräterische Hinweise aufzuspüren. Und wenn dieser Heiko Schramm seine blutjunge Freundin mit Heroin oder sonst etwas gefügig gemacht und auf den Strich geschickt hatte: erzwungene Prostitution wäre eine plausible Erklärung für die geschilderten Symptome gewesen.
Doch das
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