Hörig (German Edition)
Fettwanst für sich gefüllt hatte, ehe Heiko ihn hinaufschickte. Er hatte seine Suppe nicht angerührt, als er wieder heruntergekommen war.
Ein Kerl, der aussah, als nehme er zu jeder Mahlzeit die doppelte Portion. Der zwei Teller gefüllt hinaufgetragen und leer wieder heruntergebracht hatte. Und das Geschirrtuch über seinem Arm. Warum hatte er das abgenommen? War das kein Risiko gewesen? Sie hatte doch Alwine Retling gehört, klar und deutlich. Dieselben Worte, die sie am Nachmittag schon einmal gehört hatte.
Kann ich ins Bad?
Und Albert Retling … das war zu undeutlich gewesen.
Ihr wurde so übel, dass sie befürchtete, die Suppe erbrechen zu müssen. Ein Tonband! Da oben war keine Menschenseele. Die verfluchten Kerle hatten die Retlings erst gar nicht mit hierhergebracht. Wozu hätten sie sich auch mit ihnen belasten sollen, wenn man sie in ihrem Häuschen in Bad Münstereifel problemlos aus der Welt schaffen und liegen lassen konnte? Aber zuerst ließ Heiko die beiden noch einen läppischen Satz auf Band sprechen oder mehrere Sätze, damit sie in den nächsten Tagen ein wenig variieren konnten.
Und er holte sie nur zum Essen hinauf in die Küche, weil sie im Keller vielleicht nicht genug gehört hätte, um weiterhin bereitwillig mitzuspielen. Dann schickte er den Dicken nach oben, damit der das Band ablaufen ließ und dabei genüsslich zwei Teller Suppe hinunterschlang.
Die Frau hinter dem Türspalt musste Ende fünfzig, Anfang sechzig sein, wirkte aber erheblich älter. Sie war mittelgroß, grauhaarig, ordentlich gekleidet und hatte ein schmales Gesicht. In jungen Jahren war sie bestimmt hübsch gewesen. Hässlich war sie auch jetzt nicht. Nur verhärmt, verbraucht und erschöpft. Trotzdem war die Ähnlichkeit zwischen ihr und Schramm unverkennbar. Da sie nur eine Frau erwartet hatte, musterte sie Edmund mit misstrauischen Blicken von oben bis unten.
«Das ist mein Schwager», erklärte Dorothea wahrheitsgemäß. «Er hat mich gefahren. Können wir einen Moment hereinkommen, Frau Schramm?»
Die Frau zögerte. «Worum geht’s denn überhaupt?»
«Nicht im Hausflur», sagte Dorothea und wies mit einer bezeichnenden Geste zu den Türen der Nachbarwohnungen.
Frau Schramm machte trotzdem keine Anstalten, sie hereinzubitten, schüttelte abwehrend den Kopf und meinte: «Sie wollen doch gar nichts abgeben. Sie sind von der Polizei, oder? Nimmt das denn nie ein Ende? Was wollen Sie Heiko jetzt schon wieder anhängen?»
«Nichts, Frau Schramm», versicherte Dorothea eilig. «Wir wollen ihm wirklich nichts anhängen. Wir wollen nur verhindern, dass ihm etwas zustößt.»
Gut formuliert, fand Edmund.
Und Dorothea formulierte nicht nur, im Gegensatz zu ihm handelte sie auch. Noch während sie sprach, drückte sie die Tür weiter auf, was Schramms Mutter ohne Gegenwehr oder Protest geschehen ließ. Dann legte Dorothea der Frau eine Hand auf die Schulter, schob sie sachte von der Tür zurück, folgte ihr und erklärte dabei: «Er war heute bei meiner Schwester. Bei Patrizia, erinnern Sie sich an den Namen?»
Als die Frau nickte, fuhr Dorothea fort: «Patrizia ist jetzt bei ihm, das nehmen wir zumindest an.»
Zuerst schien Frau Schramm ein wenig erschrocken und verwirrt. Dann begann sie zu lächeln, nickte noch einmal. «Verstehe», sagte sie. «Das passt Ihnen nicht. Und jetzt wollen Sie von mir wissen, wo die beiden sind. Aber das weiß ich nicht.»
«Vielleicht denken Sie einmal nach», forderte Dorothea.
Edmund hatte die Wohnungstür hinter sich geschlossen und betrachtete die ältere Frau und den trotz ihres Lächelns abweisenden Ausdruck auf ihrem Gesicht.
«Worüber soll ich nachdenken?», fragte sie.
Dorothea wusste anscheinend nicht weiter und warf Edmund einen hilfesuchenden Blick zu. Als er sich nicht zu Wort meldete, sagte Dorothea: «Heiko ist doch heute Morgen bestimmt nicht einfach so gegangen. Er muss irgendetwas gesagt haben. Wo er hinwill, wann er zurückkommt, ob er überhaupt zurückkommt. Hat er Sachen mitgenommen, eine Reisetasche vielleicht?»
Zur Antwort bekam sie zuerst ein Achselzucken, dann ein Kopfschütteln. Es vergingen einige Sekunden, ehe Frau Schramm sich doch noch zu einer Auskunft herabließ: «Ich war nicht hier, als er gegangen ist. Ich geh morgens um sieben zur Arbeit, muss ja von irgendwas leben. Oder haben Sie gedacht, ich leb auf Kosten der Allgemeinheit?»
«Nein», sagte Dorothea.
Edmund stand nur dabei und hörte zu, wie seine Schwägerin in die Defensive
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