Hörig (German Edition)
zusammenbrechen würde, aber sie saß nur da und hörte ihm zu.
Er schilderte ihr so plastisch wie möglich, wie Albert Retling im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben wurde. Ein harmloser und friedfertiger Mann, der wahrscheinlich nie wieder arbeiten und für den Rest seines Lebens hinken würde, wenn er denn überhaupt je wieder auf den Rollstuhl verzichten konnte. Er erzählte ihr auch, dass Schramm keine Spur von Reue gezeigt hatte, kein Zeichen von Bedauern für sein Opfer.
Und warum das alles? Weil ein dummes Gänschen einem kaltblütigen Ganoven auf den Leim gegangen war, weil es sich auf infame Weise missbrauchen ließ, jedes Wort glaubte, auch wenn es noch so offensichtlich eine Lüge war.
Jedes Mal saß sie stocksteif in ihrem Sessel, verzog keine Miene, wartete auf die Absolution. Lange musste sie nie warten. Nachdem ihre Sünden aufgelistet waren, zählte Edmund all die Entschuldigungen für sie auf. Ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit, ihre Jugend, die Umstände daheim, behütet aufgewachsen, voll Vertrauen in die Mitmenschen. Und Vertrauen war etwas Schönes, etwas Gutes, niemand konnte das verurteilen. Es war ein Dressurakt, zuerst die Peitsche, dann das Zuckerbrot. Und sie lernte schnell.
Dann kam sie eines Tages mit bedrückter Miene in die Praxis. Das war ein gutes Jahr nach Beginn der Behandlung. Er sah auf Anhieb, dass etwas nicht in Ordnung war, aber er forderte sie nicht auf zu reden. Erst die Peitsche, fünfzehn Minuten lang Vorwürfe.
Wie konntest du nur, du dumme Gans!
Inzwischen war er zum Du übergegangen, dumme Gänse siezte man nicht.
Während er sprach, hielt sie den Kopf gesenkt, nestelte an ihrem Pullover herum, atmete gepresst. Als Edmund wieder schwieg, hob sie den Kopf. «Gestern Nachmittag war Frau Retling bei uns.»
Edmund verkniff sich jeden Kommentar und jede Frage, signalisierte nur Aufmerksamkeit. Sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie weitersprechen konnte. «Herr Retling ist wieder daheim. Er wurde vor zwei Tagen aus der Reha entlassen. Er muss nicht mehr im Rollstuhl geschoben werden, braucht zwar eine Krücke, aber er schafft es allein bis in die Werkstatt, sagte sie. Er will unbedingt wieder arbeiten, obwohl er seine rechte Hand nicht mehr richtig benutzen kann.»
Edmund nickte und wartete, dass sie fortfuhr. Das tat sie nach einer Weile, senkte den Kopf wieder und dämpfte die Stimme: «Frau Retling hat gefragt, ob ich auch wieder arbeiten möchte.»
Als nichts weiter kam, erkundigte sich Edmund: «Was hast du ihr geantwortet, Patrizia?»
Sie zuckte mit den Achseln, schürzte die Lippen wie ein störrisches Kind. «Nichts. Ich hab nicht selbst mit ihr gesprochen. Als sie kam, bin ich in mein Zimmer gegangen. Meine Mutter hat sich mit ihr unterhalten. Meine Mutter hat ihr gesagt, dass ich nicht mehr arbeiten kann.»
«Wie denkst du darüber, Patrizia?», fragte Edmund. «Wenn Herr Retling trotz seiner Behinderungen wieder arbeiten kann, warum solltest du das nicht können? Du hast zwei gesunde Hände und gesunde Beine.»
Noch einmal hob sie die Schultern und ließ sie wieder sinken, aber sie antwortete ihm nicht.
«Du kannst jederzeit arbeiten, nichts hindert dich daran», sagte Edmund. «Du hättest dir schon vor Monaten einen neuen Ausbildungsplatz suchen können. Warum hast du das bisher nicht getan?»
«Wer nimmt mich denn noch?», murmelte sie.
Beinahe hätte Edmund gelächelt. Sie hatte wirklich Fortschritte gemacht. «Nun», sagte er gedehnt, «ich verstehe, dass du dir die Enttäuschungen einiger Absagen ersparen willst. Enttäuschungen hast du mehr als genug erlebt, die reichen für ein Leben, nicht wahr?»
Als sie nickte, fuhr er fort: «Aber du könntest deine Ausbildung bei Herrn Retling beenden. Wenn Frau Retling sich persönlich nach dir erkundigt, werden sie und ihr Mann diese furchtbaren Ereignisse wohl ebenso beurteilen wie ich. Es war nicht deine Schuld, Patrizia.»
«Trotzdem», murmelte sie undeutlich.
Edmund hatte sie dennoch verstanden und fragte: «Was heißt das, trotzdem?»
Bis dahin hatte sie ihre Beine betrachtet, nun schaute sie ihn an. Sie schluckte einmal trocken, bevor sie ausstieß: «Da kann ich doch nicht mehr hingehen.»
«Warum nicht, Patrizia?»
Sie starrte ihn an, als hielte sie ihn für geistesgestört. «Was soll ich denn sagen?», fragte sie noch. Und plötzlich rutschte sie von der Sesselkante auf den Boden, schlug wieder und wieder mit der Stirn gegen die Kante des Beistelltisches und schrie dabei mit sich
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