Hörig (German Edition)
entschied er. «Wenn sie seine Pläne kennt, wird sie mir sagen, was er vorhatte. Ich weiß schon, wie ich sie zum Reden bringe.»
Während der Fahrt sprachen sie kaum. Dorothea schien wütend und beschäftigte sich mit ihrem Smartphone. Jedes Mal, wenn Edmund sie mit einem kurzen Seitenblick streifte, bemerkte er ihren verkniffenen Gesichtsausdruck. Dass sie höchstwahrscheinlich wütend auf ihn war, weil er ihr nicht gesagt hatte, was ihm durch den Kopf gegangen war, interessierte ihn nicht sonderlich. Ihre Vorwürfe hatte er fast schon wieder vergessen.
Einen Teufel aus ihm gemacht!
So ein Unsinn, Schramm war ein Teufel. Und es spielte wirklich nur eine untergeordnete Rolle, ob nun momentan ein gefährlicher oder eher ein gefährdeter.
Wenn Patrizia abdrückte … Edmund erinnerte sich, dass sie einmal darüber gesprochen hatten, wie das wohl sei, einen Menschen zu töten, nicht unbedingt Schramm, sondern irgendeinen, von dem man dachte, die Welt sei ohne ihn ein bisschen besser. Dass im Augenblick der Tat wahrscheinlich die Waffe den Unterschied machte. Dass es, wenn man nicht gerade vor Wut, Enttäuschung oder einer ähnlichen Empfindung völlig außer sich war, Überwindung kosten musste, mit den Händen eine Kehle zuzudrücken oder ein Messer in einen Körper zu stechen. Bei diesen Methoden gab es Körperkontakt zum Opfer. Und das Opfer konnte sich noch zur Wehr setzen.
Eine Schusswaffe dagegen schaffte Distanz und Sicherheit. Es war eine Kleinigkeit, einen Finger zu krümmen. Aber später, wie würde Patrizia es verkraften? Wo manche Polizisten sogar dann noch psychische Probleme bekamen, wenn sie in einer Gefahrensituation aus reiner Notwehr einen Angreifer erschossen hatten.
Dorotheas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. «Du musst da vorne links abbiegen.»
Wenig später hielt Edmund mit dem Wagen auf einem Parkstreifen vor einem schäbigen Wohnblock. Dorothea stieg aus und ging auf den Hauseingang zu. Er folgte ihr. Als er sie erreichte, stand sie gebückt und versuchte, mit Hilfe ihres Feuerzeugs die Namensschilder neben den Klingelknöpfen zu lesen, weil die im Hauseingang angebrachte Lampe entweder kaputt war oder keinen Bewegungsmelder hatte. Es war trostlos, mehrere der Klingelknöpfe waren herausgerissen, neben anderen fehlte der Name. Edmund schaute an der Fassade hoch, hinter einigen Fenstern brannte Licht.
«Hoffentlich ist sie daheim», murmelte er.
Dorothea fand schließlich, was sie suchte, drückte auf einen der Knöpfe und richtete sich auf. «Natürlich ist sie daheim. Wo soll eine alte Frau denn sonst sein um die Zeit?»
«Unterwegs», sagte Edmund in Erinnerung an ihre Telefonaktion vom frühen Abend. «Um ihren Sohn zu informieren, dass Gerda angerufen hat. Wer ist das überhaupt?»
«Eine Bekannte von ihm», erklärte Dorothea. «Und um ihn zu informieren, reicht ein Anruf, dafür muss man nicht in der Gegend herumlaufen.»
«Vorausgesetzt, man kennt die Telefonnummer», wandte Edmund ein und stellte fest: «Du musst ihn damals ja gut gekannt haben. Ich wusste gar nicht, dass du …»
«Du kannst nicht alles wissen, Eddi», unterbrach sie ihn lakonisch. «Aber du kannst davon ausgehen, dass seine Mutter die Nummer kennt, vielleicht nicht auswendig, dann klebt eben ein Zettel am Kühlschrank oder sonst wo.» Sie wollte noch etwas anfügen, wurde jedoch ihrerseits vom Knacken der Gegensprechanlage unterbrochen.
«Ja?», fragte eine dünne Stimme, eindeutig weiblich und dem Klang nach älter.
Dorothea beugte sich zu den Schlitzen über der Klingelanlage hinunter. «Frau Schramm, ich bin es, Gerda. Wir haben eben miteinander telefoniert. Kann ich kurz raufkommen?»
Sie musste eine Weile verhandeln. Edmund wunderte sich über ihre Zähigkeit und den Erfindungsreichtum, den sie dabei an den Tag legte. Auch Dorothea war eine phantasievolle Frau. Was den Eltern fehlte, machten die Töchter doppelt und dreifach wett. Doch erst als sie behauptete, etwas abgeben zu müssen, summte endlich der elektrische Türöffner.
Edmund folgte ihr in den Hausflur, stieg hinter ihr die Treppen hinauf in den dritten Stock. Die Beleuchtung reichte nur bis ins zweite Stockwerk, im dritten war sie anscheinend defekt.
«Was machst du, wenn sie Gerda kennt?», fragte er.
Dorothea zuckte mit den Achseln, und irgendwie bewunderte er sie. Sie wirkte so gelassen. Dann stand er im Halbdunkel neben ihr vor einer Wohnungstür. Sie klopfte, die Tür wurde nur einen Spaltbreit geöffnet.
Nachdem die
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