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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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an drei aufeinander folgenden Mittwochen im letzten Herbst, haben wir sie durch den Parc Lafontaine gehen sehen. Jedesmal habe ich sie entdeckt, und jedesmal war ich tagelang bedrückt, ich sah in ihrem Erscheinen eine Ankündigung ihrer Rückkehr in dein Leben. Jedesmal blieben wir beide an deinem Schlafzimmerfenster stehen, beobachteten sie bei ihrem Spaziergang durch den Park und fragten uns, was sie wohl mitten in der Woche so weit weg von zu Hause machte. Wir konnten nicht anders als ihre Anwesenheit auf den Wunsch zurückzuführen, dir zu begegnen oder von dir gesehen zu werden, Nadine hat genau gewußt, wo du wohnst, wahrscheinlich wollte sie sich bemerkbar machen, ohne an deine Tür zu klopfen. Wir sahen sie schon von weitem, ihre Silhouette war unter tausenden zu erkennen, vor allem mit diesem unvergleichlichen Haarschnitt, ihrem Markenzeichen, auf einer Seite sehr kurz, auf der anderen länger. Außerdem hatte sie die metallic-blaue Orion-Jacke mit den silbernen Sternen an, die sie von einem ihrer Ex-Freunde geschenkt bekommen hatte, ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal, weil es davon nur ein Dutzend in ganz Montreal gab, für jeden DJ der Gruppe eine. Sie ging auffallend langsam, als ob sie bei jedem Schritt stehen bliebe, um bis zehn zu zählen, und ich dachte jedesmal, damit will sie doch nur ihre Chancen steigern, von dir gesehen zu werden. Mich erinnerte das an die Berglandschaften, die mit nervenaufreibende Langsamkeit im Hintergrund vorüberziehen, wenn man auf der Autobahn fährt. Mal blickte sie, die Hände in den Taschen, zum Himmel, als wollte sie den Formationsflug der Vögel in den Süden beobachten, dann zündete sie sich eine Zigarette an, setzte sich ins Gras und rauchte ein paar Züge. Gelegentlich blieb sie stehen, ging zurück, verschwand aus unserem Blickfeld, tauchte zehn Minuten später wieder auf und setzte ihren Weg auf der anderen Seite des Parks fort, nur um erneut zu verschwinden, diesmal endgültig.
    Es quälte mich, sie so nah bei dir zu wissen, weil ich wußte, es schmeichelte dir, seit Nadine dich fallengelas-sen hatte, strich sie um dich herum. Bei ihrem Anblick hattest du den gleichen zufriedenen Ausdruck im Gesicht wie beim Lesen deiner Artikel im Journal. Zu meiner Beruhigung hast du gesagt, sie würde von dir ohnehin nicht kriegen, was sie sich wünschte, du würdest ihr nie in den Parc Lafontaine nachlaufen, um sie zu fragen, was sie dort mache und was sie von dir wolle.
    Das dritte Mal, als wir sie den gleichen Weg vorbei-spazieren sahen, bin ich aus deiner Wohnung gestürzt.
    Um mich zurückzuhalten, hast du behauptet, daß mein Kampfgeist sie nur noch mehr reizen würde, und als du merktest, daß ich nicht auf dich hörte, hast du gesagt, ich machte mich damit zur Idiotin. Kurz bevor ich sie erreicht hatte, blieb ich stehen und versteckte mich hinter einem Baum, um nachzudenken; daß ich aus deiner Wohnung gestürzt war, um ihr nachzulaufen, hieß, daß ich den Kampf bereits verloren hatte, daß sich mein Schicksal jetzt erfüllte, denn das war mein Schicksal, unter Druck gesetzt und vereinnahmt zu werden. Die Menschen um mich herum schauten mich merkwürdig an, wie eine Geisteskranke, doch in dem Trancezustand, in dem ich war, wurde mir das nicht bewußt. Nadine kehrte mir den Rücken zu und rauchte im Stehen, mit Blick auf die Rue Sherbrooke, dann setzte sie sich im Schneidersitz hin, immer noch mit dem Rücken zu mir.
    Ich stand hinter dem Baum und betrachtete ihren orion-blauen Rücken mit den silbernen Sternen wie ein unerreichbares Ziel, ich wußte weder, was ich ihr antun, noch was ich ihr sagen sollte. Ich hätte gern den Mut gehabt, meine Körperkraft zu gebrauchen, mich einfach auf sie zu stürzen und sie ohne Erklärung zu erwürgen, aber ich könnte nie jemanden umbringen außer mir. Sie stand plötzlich auf, warf ihre Zigarette ins Gebüsch und kam schnellen Schrittes auf mich zu, so daß ich aus meinem Versteck hervorspringen mußte wie das Teufelchen aus seiner Kiste. Sie war es nicht. Die Frau, die die Verrückte auf ihrem Weg verdutzt ansah und ein wenig zurückwich, hatte keine Ähnlichkeit mit Nadine, aus der Nähe betrachtet jedenfalls; sie hatte nur ihre Statur und diesen besonderen Haarschnitt und außerdem die Orion-Jacke, deren Herkunft ein Mysterium blieb. Angesichts meines Blicks, der sich von Nadines Bild nicht lösen konnte, runzelte die Frau irritiert die Stirn; sie erwartete offen-sichtlich, daß ich etwas sagte. Ich bat sie um eine

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