Hoerig
der Bilanz der Toten nach einem Anschlag in den Abendnachrich-ten.
Nadine hat dich in ihrem Schreiben von der Existenz einer neuen, unabhängigen Tageszeitung informiert, für die du vielleicht schreiben könntest, sie lobte deine Qualitäten als Schreiber und den Zynismus, der in dieser neuen Zeitung besonders gefragt sei, und hat dich am Ende umarmt.
Ich war den ganzen Tag wie benommen, ich dachte, der Wahnsinn, der in meinem Kopf tobt, darf nicht nach außen dringen, die Wirklichkeit muß sich doch dagegen wehren, hoffentlich gibt sie nicht auf. Ich erinnere mich daran, daß ich den ganzen Nachmittag immer wieder diese Mail las, als könnte ich darin Gründe finden, mir keine Sorgen zu machen.
Du hattest in deinem Computer Nacktfotos von ihr ge-speichert, zehn ungefähr, du hast dich immer geweigert, sie mir zu zeigen, du hast mir gesagt, daß du sie von Zeit zu Zeit durchsiehst, ohne zu erläutern, was du mit durch-sehen eigentlich meintest; hieß das, überprüfen, ob alles seine Ordnung hatte, hieß es, wichsen, hieß es, ein im Dunkeln gebliebenes Detail der Vergessenheit entreißen, um Falten auszubügeln und die Erinnerung aufzufrischen, war es der professionelle Reflex des Journalisten, der keine Fehler in seiner Arbeit haben will, sollten die Fotos Geschichten in dir wachrufen, wolltest du dein Gewissen beruhigen, war es Prinzip, Manie, wolltest du sie besu-chen, streicheln, um das Tier zu zähmen?
Kaum hattest du mir den Rücken gekehrt, suchte ich immer nach diesen Fotos, kriegte sie jedoch nie zu fassen, weil mir die Zeit dazu fehlte. Heute scheinen sie mir viel zu beladen, wahrscheinlich sind darauf alle Schlüssel, die mir fehlten, um dich an mich zu binden, und etwas sagt mir, daß sie auch die Geheimcodes des Kom-plotts enthalten. Wenn ich an Nadine denke, fühle ich mich nicht schön, ich habe ein Gebet erfunden, daß sie bald den Mann ihres Lebens findet und weit fortgeht.
Wenn ich sterbe, möchte ich sie nicht in meiner Nähe wissen.
A m Tag deines Abgangs hast du vom Jahrestief im Februar gesprochen, das in Quebec besonders schlimm sei und den Ärzten vollen Einsatz abverlange, weil sie so viele Antidepressiva verschreiben müßten. Es habe vielleicht an der fehlenden Sonne gelegen, daß ich dir abhanden gekommen sei, hast du gesagt, und daß du mich wahrscheinlich auf dem Weg in den Sommer wieder finden würdest, also im Mai oder Juni, vermutlich würdest du schon von mir hören wollen, wenn die ersten Knospen auftauchten. So hält man etwas am Köcheln, wenn man nicht mehr liebt, man sagt, wer weiß, vielleicht demnächst mal wieder, vertröstet auf ein andermal; die Dramatik eines echten Abschieds bleibt Frauen vorbehalten, die man noch liebt.
In diesem Winter haben wir den Alltagstest gemacht und sind daran gescheitert. Wir waren alle beide nur für den Anfang geschaffen, für den Aufstieg und für die Flucht zum Besseren. Wer heutzutage in der Liebe Erfolg haben will, muß rechtzeitig gehen können, muß die gepackten Koffer im Flur stehen lassen. Meine Fehler waren viel zu groß und betrafen dich viel zu sehr, vor allem, daß ich dir nicht von der Seite wich, weil ich dich überwachen und von anderen fernhalten wollte, Liebe hieß für mich, meine Haut zu retten, indem ich keine Frau an dich heran ließ.
Ich habe in der Zeit nicht viel gearbeitet und fast meine ganze Zeit bei dir verbracht. Mein Zuhause war mir fremd geworden, ich erkannte meine Möbel nicht wieder und hatte vergessen, in welchen Schränken sich welche Konserven befanden, die unverputzten Wände, die in ganz Montreal begehrt waren, haben mich erdrückt. Bei dir habe ich mich genauso fremd gefühlt. Deine Katze Oreo machte mir angst, weil du sie streicheltest und Muschi zu ihr sagtest, dein Computer machte mir angst, weil er die Geschichte deiner Entladungen enthielt, und dein Telefon machte mir angst, weil jede spontane Verabredung meine Entlassung bedeuten konnte. Wenn JP zum Videospielen kam, was manchmal bis spät in der Nacht ging, hast du mich immer nach Hause geschickt.
Daß ich schon mit fünfzehn meinen Tod vorhersah, hat mich in diesem Winter vor nichts bewahrt. Ich war meinem Großvater ähnlich. Als er mit hundertein Jahren starb, trotzte er mit schrecklichen Grimassen der unsichtbaren Welt, die ihn holen kam. Von seinen Kindern und Enkelkindern umringt, fuhr er im letzten Moment brüllend aus seinem Krankenbett hoch, krallte sich mit zorn-verkrampften Fingern an den Arm meines Vaters und starrte zur
Weitere Kostenlose Bücher