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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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tun, als sähen sie den Pärchen auf der Bühne zu.
    Stoßzeiten wie freitags zwischen achtzehn und zwanzig Uhr waren mir am liebsten, dann riß mich die Intensität der Geräusche so sehr mit, daß ich alles andere vergaß, die Gefahr einer Entdeckung und manchmal sogar deine Existenz. Zwei-, dreimal kam ich unter größten Anstrengungen zum Orgasmus, doch danach überfiel mich die Traurigkeit noch schlimmer als sonst und hielt tagelang an, vielleicht weil etwas in mir funktionierte, ohne daß einer von uns beiden etwas damit zu schaffen hatte. Es ist nicht leicht zuzugeben, daß das Leben einfach weitergeht, nicht weil man sich dafür entschieden hat, sondern weil man nichts gegen seine organische Kraft tun kann, die sich ihren Weg bahnt, ungeachtet des menschlichen Willens, ungeachtet des Unrechts gegenüber den Klein-sten, etwa den armen Kindern, die man in Uniformen steckt und als Ersatz für die gefallenen Soldaten aufstellt, wenn die Männer schon alle tot sind. Es ist nicht leicht zuzugeben, daß das Leben sich der Hungernden und Kranken bedient, um zu wachsen, noch in Form von Weizensäcken, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, noch in Form der Kreuzung von Rinderrassen in Labora-torien und in Form von Antidepressiva, die erschöpfte Seelen zur Bewegung zwingen. Dieses Leben, das sich im Dunkel der Zeiten verliert und immer Recht behält, das aus dem Schlimmsten wieder neu hervorsprudelt, um sich von neuem durchzusetzen und alle Fehler der Vergangenheit von Anfang an zu wiederholen, dieses Leben will ich nicht mehr… Wenn ich bedenke, daß man den Mut der Überlebenden feiert, die doch nur vom Leben hinterher geschleppt werden!
    Wenn ich lange genug mit geschlossenen Augen dasaß, floß mir manchmal ohne Vorwarnung Sperma über die Wangen, oder ich schlug die Augen auf und sah einen auf meinen Mund gerichteten Schwanz. Die Männer, die sich mir an diesem Ort näherten, waren leise, wo ich doch nichts anderes als ihnen zuhören wollte. Jedesmal, wenn so etwas passierte, riß der Faden meiner Träumereien, ich hatte die Lust an den Geräuschen der Männer um mich herum verloren und ging. Das war wie nach den After Hours im Morgengrauen, wenn man sein von den Stunden der Finsternis gezeichnetes Gesicht, schamhaft hinter einer Sonnenbrille verborgen, dem Tageslicht aussetzt, weil man dringend an einen Ort muß, wo man niemanden mit seiner Anwesenheit überrascht. Ich ging nach Hause, wo ich bei zugezogenen Vorhängen auf meinem Telefon-display nachsah, ob deine Nummer unter den Anrufen war; du hättest ja in meiner Abwesenheit Lust bekommen haben können, mich zu sprechen, du hättest ja aus der Entfernung spüren können, daß ich fiel. Ich hätte lieber einsehen sollen, daß der Versuch, im Keuchen von anderen einen Teil von dir wieder zu finden, mich deine Abwesenheit nur um so deutlicher spüren ließ. Ich hätte es ein für allemal für unannehmbar erklären sollen, daß sich hinter den anderen unterirdische Gänge zu wieder anderen öffnen und daß man selbst für andere ein Kanal-netz bilden kann, wo man sich durch den Auswurf tastet, den Männer von sich geben, wenn sie sich erleichtern.
    Nach ein paar Wochen wurde mir schlecht, sobald ich die Augen schloß, woran ich erkannte, daß ich womöglich schwanger war. Die Geräusche im Cinema L’Amour hatten sich verändert und von deinen gelöst, du hattest deine wahrscheinlich im Kontakt mit anderen Frauen weiterentwickelt, deine Geräusche standen ihren nun gegenüber wie in einem Wechselspiel von Echos, komplementär und unnachahmlich. Nach ein paar Wochen schlief ich ein, sobald ich die Augen schloß, in dieser Periode meines Lebens machte ich nur unangemessene Dinge. Bald darauf bestätigte sich meine Schwangerschaft durch einen Test aus der Apotheke, das änderte eine Zeitlang alles, mein Todeszeitpunkt war in Frage gestellt. Erst am Tag nach der Abtreibung stand meine Entscheidung wieder unumstößlich fest, da habe ich auch begonnen, dir diesen Brief zu schreiben.

    Freddy begleitete mich weiterhin ins Cinema L’Amour, seine Freundschaft zu mir ging sehr weit. Bevor ich dich kennenlernte, haben wir jedes Wochenende im Parc Lafontaine gepicknickt, sicher haben wir auch unter deinem Schlafzimmerfenster einmal eine Flasche Wein geöffnet. Im Saal war Freddy immer in meiner Nähe, wenn auch weit genug weg, daß ich nichts von ihm hörte.
    Wahrscheinlich gelang ihm das Wichsen besser als mir, aber ich war mir nie sicher. Er machte nachher auf der Gasse

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