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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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Decke. Mein Vater sagte später, er habe im Todeskampf ausgesehen wie bei einer Teufelsbeschwö-
    rung, vielleicht hätte er ja die ganze Familie getäuscht und statt dem Wort Gottes das Satans verkündet.
    Deine Mitbewohnerin Martine hatte auch wenig Arbeit und war immer da, der Winter verbannte uns nach drinnen, das Nichtstun hielt uns zusammen. Überall stand von ihr geblasenes Geschirr herum, ihre Weihnachtsku-geln hingen zu Hunderten von der Decke, du hattest sogar einen Ring von ihr, den habe ich eines Tages bei dir aus dem Fenster geworfen. Du mußtest deine Artikel schreiben, du bist entweder den ganzen Tag in deinem Zimmer am Computer gesessen oder mit dem Laptop nach unten in ein Café gegangen, meistens ins Eldorado am Plateau, manchmal trieb es dich sogar bis nach Mile End, ins Olympico. Dort sitzen viele Journalisten herum, hast du gesagt, weil Journalisten einander gern im Auge behalten und Kollegen aushorchen, ohne eigene Ideen preiszugeben. Auf Radio Canada wurde oft wiederholt, was morgens von dir im Journal stand, ohne daß dein Name fiel, sie vergriffen sich an deinem Eigentum; in deiner Welt sei der Schwarzhandel mit Informationen gang und gäbe.
    Deine Mitbewohnerin Martine zählte zur Kategorie der Kumpel, du konntest ihr auf die Schulter hauen, ohne daß sie es übel nahm. Ab und zu seid ihr zusammen essen gegangen, obwohl ich mir währenddessen die schlimmsten Dinge ausmalte über euch beide und eure Füße, die sich unter dem Tisch berührten, ich habe dir gesagt, daß mich das umbringt, doch du wolltest dich nicht erpressen lassen. Ihr wart euch beide einig, daß Freunde miteinander ausgehen sollten, um keine bloße Wohngemeinschaft zu bleiben. Ihr wart euch einig, daß Freunde auf die Liebe des andern verzichten müßten und daß wir alle eigenständige Individuen seien; ihr wart euch einig in eurer Abneigung gegen den Verzicht in der Liebe und in eurer Verachtung der Vorstadtfrauen, die sich zwecks Familiengründung begatten ließen und ihre Kinder dann im Hinterhof aufzogen. Als Plateau-Bewohner mit Leib und Seele mußte man bestimmte Vorstellungen vertreten, das hieß, die Dinge aus der Sicht eines Karrieristen betrachten, und gewisse Prioritäten beachten, das hieß, die eigene Person.
    Gelegentlich bist du auch mit Annie ausgegangen, deiner anderen Ex-Brünetten, deren übertriebene Liebe deine Liebe zu ihr verhindert hatte. Mißtrauisch war ich trotzdem. Es hätte ja sein können, daß du Gefallen an ihr findest, nachdem du dich aus ihrem Griff befreit hast. So etwas soll schon öfter vorgekommen sein, es ist geradezu klassisch. Ich wollte mich oft von dir befreien, damit du mich zurückholst, das hat aber nie funktioniert, seit dem Schweigegebot des Tarots meiner Tante verläuft mein Leben vielleicht in umgekehrter Richtung wie das aller anderen Menschen.
    Manchmal sind wir beide essen gegangen in diesem Winter, immer auf dem Plateau. Diese paar Abende waren die letzten glücklichen Momente mit dir, weil du dich vom Bildschirm losreißen konntest, weil du mich lange angeschaut und mir die Hände geküßt hast. Einmal bist du sogar aufgestanden, um mich über den Tisch hinweg zu küssen, und als deine Lippen meine berührten, verstummten die Menschen ringsum und senkten die Augen wie in dem Moment, wo der Priester den Leib Christi über die Köpfe der Gläubigen hebt. Daß um uns herum das Leben auf die Knie fiel, um unsere Liebe zu bekennen, machte mich so glücklich, daß ich die Rechnung bezahlte. Ich wußte ja, daß öffentliche Liebesbe-zeugungen dir ein Greuel waren, du hast deine europäische Zurückhaltung in den fünf Jahren, die du in Quebec lebtest, nur selten aufgegeben.

    Wäre nicht an jenem eisigen Dezembermorgen Nadine in deinem Outlook aufgetaucht, denn hätte die kleine Familie aus deiner Mitbewohnerin, deiner Ex-Freundin Annie und mir vielleicht das Gleichgewicht halten können, aber Nadine brachte das Ganze zum Kippen. Sie hat über dich triumphiert, das verlieh ihr ein solches Gewicht, daß sie auch die Frauen an deiner Seite erdrückte.
    Wenn du von Nadine gesprochen hast, mußtest du dich setzen. Wenn JP erzählte, er habe sie in der Stadt gesehen, hast du komischerweise immer deine Handflächen betrachtet, als hättest du festgestellt, daß sie dir entwischt ist.
    Ausgeschlossen, daß ihr euch im Parc Lafontaine nicht geliebt habt, Nadine und du. Dieser Park im Rahmen deines Schlafzimmerfensters ist einmal mein Lieblings-park gewesen, bevor ich dich

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