Hoffnung am Horizont (German Edition)
Gott, dass er Ihnen Ihre Güte und Freundlichkeit hundertfältig erstattet.
Jonathan Wesley McCutchens
Die Worte auf der Seite verschwammen vor Annabelles Augen, bis sie nur noch ein Gewirr aus dunklen Strichen waren. Sie wischte sich die Tränen ab, damit sie nicht auf den Brief fielen und die Tinte verschmierten. Jonathan erwähnte Matthew mit keinem Wort. Dafür war sie insgeheim dankbar. Die letzten Wünsche ihres Mannes waren eindeutig und klar. Außerdem verdiente Matthew wegen der verletzenden Dinge, die er zu Jonathan gesagt hatte, und der Art, wie er ihn behandelt hatte, weder Jonathans Barmherzigkeit noch einen Teil seines Landes.
Eine unerwartete Hitze stieg bei diesem letzten Gedanken aus ihrer Brust in ihren Hals auf, und ihr Gewissen tadelte sie sofort für ihre Wut. Jonathan hatte Matthew so vollständig vergeben, ohne dass Matthew ihn darum gebeten hatte. Wie konnte sie etwas anderes tun, falls Sie je gezwungen werden sollte, eine solche Entscheidung zu treffen? Sie verzog einen Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. Da die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich je wieder begegnen würden, so gering war, musste sie sich mit dieser Frage nicht unnötig auseinandersetzen.
Annabelle starrte den Brief in ihren Händen an und fuhr mit der Fingerspitze vorsichtig über die Buchstaben. Jonathan hatte nie viele Worte gemacht und war kein Freund von langen Reden gewesen. Doch er hatte eine unvergleichliche Gabe besessen, Worte zu Papier zu bringen.
Jonathan hatte sie wahrscheinlich nie bemerkt, wenn sie ihn aus dem Schatten heraus beobachtet hatte, als sie schon längst hätte schlafen sollen. Nacht für Nacht hatte sie zugesehen, wie er geschrieben hatte, bis die Petroleumlampe ausging. Anfangs hatte sie es sonderbar gefunden, dass er so viel Zeit darauf verwendete zu schreiben, wenn er es nie erwähnte.
Aber eines Morgens hatte sie in ihrer Wohnung in Denver verkohlte Reste eines Briefes in der kalten Glut gefunden. Vorsichtig hatte sie den Rest des Blattes aus der Asche gezogen. Er war an den Rändern verbrannt und zerbrach fast unter ihren Fingern, war aber an einigen Stellen noch lesbar gewesen. Es war ein Brief an Matthew, in dem Jonathan ihn um Vergebung für seinen Teil an dem Streit in jener Nacht bat und ihm gleichzeitig seine bedingungslose Vergebung zusprach. Er lud Matthew ein, zu ihnen nach Idaho zu kommen und mit ihm zusammen die Ranch zu betreiben.
Wie viele Briefe hatte Jonathan in der Hoffnung auf Versöhnung nachts an seinen jüngeren Bruder geschrieben, nur um sie dann ins Feuer zu werfen? Hatte er je einen dieser Briefe an ihn abgeschickt? Hätte Jonathan es ihr nicht gesagt, wenn er das getan hätte?
Annabelle hob seufzend den Kopf und hielt ihr Gesicht in die Sonne und in den Wind. Sie hätte es gerne ertragen, allein den Preis dafür zu bezahlen, dass Jonathan sie geheiratet hatte. Aber der Preis, den er dafür bezahlen musste, indem er seinen einzigen Bruder verlor, war zu hoch gewesen. Jonathan war sechs Jahre älter als Matthew und hatte sich ihm gegenüber immer eher wie ein Vater als wie ein Bruder gefühlt.
Annabelle sah sich den Brief wieder an und blieb an einer Formulierung hängen: Nur das, was wir für Gott tun, hat Bestand.
Dieser eine Satz fasste das Leben des Jonathan Wesley McCutchens, den sie gekannt hatte, zusammen.
Unser Leben ist wie Wasser, das auf die Erde geschüttet wird. Es lässt sich nicht wieder einsammeln …
Anders als viele andere hatte er ihr fehlgeleitetes Leben nicht verachtet, sondern ihr ein neues Leben geschenkt, indem er sie – im buchstäblichen Sinn – aus dem Bordell freigekauft hatte. Annabelle sah auf den festgetretenen Lehm unter ihren Füßen. So viel von ihrem Leben war wie Wasser auf die Erde geschüttet worden. Es war vergeudet und konnte nicht zurückgeholt werden.
Aber das war jetzt vorbei.
Sie atmete tief aus und wieder ein. Sie füllte ihre Lunge mit frischer Luft und hielt sie an, so lange sie konnte, bevor sie wieder ausatmete. In der Nacht, bevor Jonathan starb, hatte sie neben ihm gelegen und sich gewünscht, die Flamme des Glaubens, die in ihm geleuchtet hatte, könnte auch in ihr so hell brennen. Sie kannte die Quelle dieses Lichts. Aber was sie sich bis jetzt noch nicht vorstellen konnte, war der Preis, den sie zahlen müsste, um diese Flamme auch in sich brennen zu haben.
Würde der Glaube, nach dem sie sich sehnte, ein Glaube, wie Jonathan ihn gehabt hatte, sie am Ende mehr kosten, als sie zu geben bereit
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