Hoffnung am Horizont (German Edition)
hatte, und taumelte einen halben Schritt nach hinten. Er atmete schwer aus, als etwas in ihm zusammenzubrechen schien. Dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Maske. Er schloss die Augen.
In diesem Moment spürte Annabelle den gleichen bohrenden, schmerzlichen Verlust wie an dem Morgen, an dem sie im Planwagen aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Jonathan tot neben ihr lag.
Zu ihrer eigenen Überraschung wünschte sich Annabelle, obwohl Matthew Jonathan so tief verletzt und sie mit abgrundtiefer Verachtung behandelt hatte, sie könnte ihn irgendwie trösten. Vielleicht deshalb, weil sie genau wusste, was er in diesem Augenblick fühlte.
Doch als er sie wieder ansah, wurde ihr die Kühnheit und Absurdität dieses Impulses schmerzhaft bewusst.
Matthews dunkelbraune Augen waren fast schwarz vor Wut und Verachtung. Annabelle sagte sich, dass sie den Blick abwenden sollte, aber sie konnte es nicht. Genauso sicher, wie der ältere Bruder sie geliebt hatte, schien der jüngere fest entschlossen zu sein, sie zu hassen. Wie kam es, dass sie in den Augen des einen Bruders immer gesehen hatte, was sie werden könnte, während der Blick des anderen sie immer daran erinnern würde, was sie früher gewesen war?
„Mr Taylor, darf ich Ihnen Mrs Jonathan McCutchens vorstellen? Sie ist die Witwe, von der ich Ihnen erzählt habe …“ Patrick musste Matthews Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er schaute ihn fragend an. „Stimmt etwas nicht?“
Auf der Suche nach einer Erklärung wanderte sein Blick weiter zu Annabelle, aber sie konnte keine Worte finden.
Matthew räusperte sich und setzte seinen Hut wieder auf. „Es sieht so aus, als wäre ich doch nicht der richtige Mann für diese Stelle, Herr Pfarrer. Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe.“ Seine tiefe Stimme klang angespannt und verriet Gefühle, die er sicher lieber vor ihr versteckt hätte. „Bitte grüßen Sie Ihre Frau von mir. Guten Tag, Sir.“
Ohne Annabelle noch einmal anzuschauen, ging er weg.
Patrick wollte ihm folgen. „Matthew, warten Sie …“
„Patrick, nicht.“ Annabelle hielt ihn am Arm fest, und ihre Stimme war nicht viel lauter als ein Flüstern. „Du verstehst das nicht. Bitte, lass ihn einfach gehen.“
Annabelle schaute Matthew nach, wie er um die Ecke des Hauses verschwand. Sein Gang war steif und stolz. Dieser Stolz war ihr schon vor zwei Jahren an dem Abend aufgefallen, an dem Kathryn Jennings sie einander vorgestellt und Matthew ihr die Nachricht überbracht hatte, dass die Leiche eines Mannes, vermutlich Larson, gefunden worden sei. Annabelle hatte sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt, dass die Leute nichts mit ihr zu tun haben wollten, aber bei Matthew war es anders.
Matthews Verachtung reichte viel tiefer, als dass er sie nur übersah oder ihr auf der Straße ein Schimpfwort zurief. Wenn sie in Matthew Taylors Augen schaute, wusste sie, dass er seine Meinung über sie niemals ändern würde. Welchen Maßstab er auch anlegte, um den Wert eines Menschen einzuschätzen, sie würde immer auf der untersten Stufe landen und wäre für ihn nie mehr wert als Dreck.
„Was verstehe ich nicht, Annabelle? Er hat dich nicht einmal kennengelernt. Wie konnte er einfach …?“ Patricks Kinnlade fiel leicht nach unten. „Kannte er dich von früher? Aus dem Bordell?“
Annabelle schüttelte den Kopf, ohne wegen seiner Frage beleidigt zu sein. Die Frage war durchaus berechtigt. „Nein, das ist es nicht, das verspreche ich dir.“
„Was ist es dann? Was ist hier gerade passiert?“ Zum ersten Mal hörte Annabelle Frustration in seiner Stimme. „Er schien für diese Stelle perfekt zu sein! Er hat Erfahrung, und vor allem ist er der Typ Mann, wie Jonathan ihn als deinen Begleiter auf diesem langen Weg gewollt hätte.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ein Mann, wie er ihn in seinem Brief beschrieben hat. Ein Mann, der deine Ehre schützen würde.“
Annabelle unterdrückte bei dem Gedanken, dass ihre Ehre bei Matthew Taylor je in Gefahr geraten könnte, ein bitteres Lachen. „In dieser Hinsicht hast du vollkommen recht, Patrick. Meine Ehre, so fragwürdig sie auch sein mag, wäre bei Mr Taylor wirklich nicht in Gefahr, egal, wie lange die Reise dauert. Das kann ich dir versichern.“ Ein dumpfer Schmerz setzte in ihrer linken Schläfe ein. Sie hob die Hand, um die Stelle zu massieren. Die Ereignisse der letzten Wochen, gepaart mit ihrer Schwangerschaft, forderten ihren
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