Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
steht fest, dass ich schon eine ganze Weile lang keine Frauenstimme mehr gehört habe – kein Wunder, dass ich mich über deren Sanftheit freue.
»An dem Tropf werden Sie jetzt mal ein paar Tage hängen«, sagt sie, und ich lächle. Ich hoffe, das bedeutet, dass ich einige Tage im Krankenhaus bleiben kann. Eine nette Abwechslung ist das, mal aus der Zelle rauszukommen. Auch wenn ich mich in diesem Bett schwindlig und schwach fühle, kann ich immerhin Menschen dabei beobachten, wie sie in die Mittagspause gehen. Ich kann ihnen bei der Arbeit zuschauen. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob das besser ist als die Aussicht auf den Überwachungswagen, aber es ist anders, und manchmal reicht Anderssein schon aus.
»Ich sag dem Doktor, er soll mal vorbeischauen. Wenn er es erlaubt, kann ich Ihnen ein Mittagessen bringen«, sagt sie.
»Mittagessen!«, sage ich, als ob das Geheimnis der Welt in diesem Wort läge, und ich werde mir bewusst, dass ich so breit grinse, dass mir der Mund weit offen steht. Sie gibt mir einen Klaps auf die Schulter.
»Das ist der Morphium-Tropf«, sagt sie. »Sie sind high wie ein Wolkenkratzer.« Lachend geht sie ab.
Kurz darauf kommt ein Arzt herein und sieht, dass ich wach bin. Er greift sich meinen Krankenbogen, wirft einen Blick darauf und fragt: »Wie geht es Ihnen?«
»Ziemlich gut«, sage ich.
»Zehn oder fünfzehn Minuten später, und Ihre Lichter wären ausgegangen. Ein Riesending von einem Blinddarm haben Sie da gehabt. Rausnehmen war aber kein Problem. Wie ich sehe, sind Sie kein Diabetiker.«
»Mhm«, stimme ich zu. Ich hatte alles Mögliche sagen wollen, ihm bestätigen, dass ich nicht zuckerkrank bin, vielleicht fragen, warum er das gesagt hat. Wehren sich die Blinddärme von Diabetikern vielleicht gegen das Rausgeholtwerden? Der Gedanke zaubert mir wieder einen Riesengrinser ins Gesicht, wie übrigens jeder Gedanke. »Danke, dass Sie mich operiert haben«, versuche ich zu sagen, bringe aber nur ein ächzendes »Sanke …« raus.
Er kommt rüber und sieht sich die Morphiuminfusion an. »Das ist möglicherweise ein wenig hoch eingestellt«, sagt er und dreht an einem Plastikknopf an einem der Apparate, die meinen Arm mit Chemikalien versorgen. Nachdem er gegangen ist, versuche ich, den Knopf zurück in die vorige Stellung zu drehen, oder vielleicht sogar ein wenig höher. Ich kann mich nicht erinnern, ob mir das gelungen ist oder nicht.
Am nächsten Tag kommt mir der Gedanke, dass es in meinem besten Interesse sein könnte, so zu tun, als ob ich noch Schmerzen hätte, ja zu versuchen, noch zusätzliche Symptome zu fingieren, zumal ich hier in einem sehr netten Privatzimmer in einem wunderbaren Krankenhaus mit einem Riesenfenster liege und diesen Aufenthalt ganz eindeutig dem in meinem Betonkasten vorziehe. Vielleicht gibt es ja auch Komplikationen mit der Operation, die ich für meine Zwecke nutzen kann. Als die Schwester mit einem Tablett mit Essen reinkommt – einem gar nicht so schlechten ungarischen Gulasch und einem relativ frischen Stück Schokoladekuchen, dazu richtige Milch –, nehme ich mir ganz fest vor, während jeder Anwesenheit von medizinischem Personal den Schmerzgeplagten zu mimen.
Richtige Milch! Ich lasse die kühle Flüssigkeit in meinem Mund herumschwappen und genieße den Geschmack.
Später kommt die Schwester nochmal rein und fragt mich, wie es mir geht. Ich habe die Antwort auf diese Frage geübt, mir eine ganze Litanei an Beschwerden ausgedacht, doch als der Augenblick kommt, in dem ich meine Lügengeschichte präsentieren soll, schaff ich es nicht. Ich zieh eine leichte Grimasse, wie vor Schmerzen, begleitet von einem heroischen Nicken, ganz wie jemand, der es vorzieht, in Stille zu leiden. Sie nickt, prüft meine Morphium-Infusion und sagt: »Ein gewisses Unwohlsein ist in diesem Stadium ganz normal.« Dann geht sie raus.
Den Leuten was vorzumachen, ist mir nie gelegen. Hätte ich dieses Mädchen tatsächlich entführt, wär ich garantiert nicht imstande, das glaubhaft abzustreiten. Ich würde mich nicht als Moralapostel bezeichnen. Meine Neigung, sämtliche Regeln einzuhalten und immer das zu tun, was man mir anschafft, hält sich jedenfalls in Grenzen. Gelegentlich spendiere ich eine Gratisfahrt in meinem Taxi, und wenn jemand was in meinem Wagen vergisst, überlege ich schon mal, ob ich das Zeug brauchen kann oder nicht, bevor ich es im Fundbüro abgebe. Als ich noch für Pierson arbeitete, hab ich hin und wieder Kleinigkeiten geklaut, die ich
Weitere Kostenlose Bücher