Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
ausgewachsener Psychopath. Die Bezugssysteme haben sich verschoben. Was gestern verrückt war, ist heute normal.
Ich beschließe, auch mit anderen Insassen zu sprechen, doch meine Versuche sind erfolglos. Wenn ich Bert in der Pause grüßend zunicke, deutet er fragend ein halbes Zurücknicken an und wendet sich dann Ernesto zu. Längst haben sich die Paare formiert, als wären wir Tiere in einem Gehege, froh, einen Partner gefunden zu haben. Ich gehöre jetzt zu Robert. Bert ist mit Ernie, und Clarence ist mit dem anderen schwarzen Gesellen zusammen, der nie redet. Es gibt Regeln im Todestrakt – du kannst über alles Beliebige reden, wen du getötet hast, wann du sterben wirst, aber du kannst über diese Dinge nur mit den Leuten in deiner Gruppe reden. Robert und ich sind die einzigen Mitglieder in unserer Gruppe.
Als ich hier ankam, war mir zunächst nicht klar, dass es darum geht, sich einer Gruppe anzuschließen. Da war Robert, auf den Tribünenstufen sitzend, unverkennbar unzufrieden mit seinen Optionen. Er prüft mich von der Ferne, wartet ab, ob ich mich Bert und Ernie anschließe, die mich offenbar gern gewollt hätten. Warum hat das nicht geklappt? Ich denke zurück an unser erstes Treffen, als Ernie mich aufforderte, meinen Käfig zu verlassen. Lag es daran, dass ich noch nicht verurteilt war? Oder an meiner Behauptung, unschuldig zu sein? An meiner kompletten Ignoranz, was Brad und Angelina betrifft? Was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass ich mich in ihrer Gruppe unwohl fühlte – was hat mich dazu gebracht, mich allein auf die freie Tribüne zu setzen, wie Robert? Im Fall von Clarence und dem anderen schwarzen Spaßvogel hab ich mich – neben rassischen Gründen – zweifellos wegen der Aufforderung Clarences, die Klappe zu halten, unwohl gefühlt. Aber Bert ist weiß, und Ernie ein weißer Mexikaner, und die waren eigentlich nie grob zu mir.
Offenbar passen wir als Typen einfach nicht zusammen.
Dieser Art von Scheißgedanken hängst du nach, wenn du dreiundzwanzig Stunden am Tag in einem Betonkasten eingesperrt bist. Dasselbe Zeugs, das den Kids in der Highschool durch den Kopf geht. Du wirst von Paranoia und Gefühlen der Minderwertigkeit verfolgt. Man möchte meinen, dass sich derlei in einem solchen Umfeld verflüchtigt, doch ohne Ablenkung nimmt das eher noch zu.
Ich bin noch immer mit meinen Überlegungen zu meiner sozialen Unverträglichkeit beschäftigt, als ich einen Schlüssel im Schloss höre und im nächsten Augenblick zwei Wärter in der Tür stehen. »Du hast ein Rendezvous mit deinem Anwalt«, sagt einer der beiden.
Gähnend erhebe ich mich. Mein Körper hat sich inzwischen daran gewöhnt, ohne Energie auszukommen, also liefert er mir auch keine. Ich bin ein gesunder sechsunddreißigjähriger Mann, der den ganzen lieben Tag herumsteht, wartet und die Nacht herbeisehnt, um ungestört und bewusstlos daliegen zu können. Ich wünschte, ich könnte den Rest meines Lebens schlafen, doch Hunderttausende Jahre der Evolution haben mich zu einem Jäger und Sammler gemacht, der nun nichts zu jagen und zu sammeln hat. Es kommt vor, dass ich morgens beschwingt und für den Tag bereit aus dem Bett springe und im Laufe des Vormittags zu einem gähnenden, schlappen Etwas verkümmere. Die Wärter legen mir Handschellen und Fußfesseln an, und ich schlurfe in meiner weißen Uniform durch weiße Türen den weißen Gang entlang.
Mein Anwalt, mein Retter, mein Samariter, verzehrt gerade ein Stück Plundergebäck, als ich den Raum betrete. Mein Anwalt hat kein Lächeln für mich übrig. Dies ist unser erstes Treffen seit Monaten. Als ich mich zu ihm an den Tisch setze, bedenkt er mich mit der gleichen Andeutung von einem Nicken, die mir Bert beim letzten Ausgang zuteilwerden ließ. Ich gehöre nicht zu seiner Gruppe.
Mein Anwalt ist der einzige Besucher, den ich ohne die trennende Plexiglasscheibe und ohne kontrollierendes Justizpersonal im Raum empfangen darf. Einige Anwälte bestehen darauf, dass ihre Klienten während des Treffens gefesselt bleiben, der meine – das immerhin – bittet den Wärter, mir die Handschellen abzunehmen. Meine Fußfesseln bleiben angelegt, zum einen, weil der Wärter einige Minuten braucht, um sie anzulegen und wieder zu lösen, und zum anderen wohl auch deshalb, weil es für jemanden, der sich von Berufs wegen oft mit Gewaltverbrechern in einem Raum aufhält, beruhigend ist, wenn er deren Beine angekettet weiß. Laut Robert kann die Anzahl der Fesseln, die der
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