Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
Seiten gesagt kriege, was für ein schrecklicher Mensch ich bin, nur weil ich nicht zugeben will, was ich nicht getan habe. Wie ich da so auf meiner Trage liege, wird mir zum ersten Mal richtig bewusst, in was für einer unendlich beschissenen Situation ich eigentlich bin. Ich bekomme das Gefühl, dass der Tod meine beste Option wäre.
Ich versuche, jeden Widerstand aufzugeben, mich in die Bewusstlosigkeit fallen zu lassen, mich dem Tod zu überantworten. Ich versuche, lange und ganz langsam auszuatmen. Entspanne alle Muskeln. Scheiß auf die Welt. Ich hau ab. Verbreitet doch alle Lügen über mich, die ihr wollt. Räumt meine Kotze weg und macht euch schon mal Gedanken, was ihr mit meinem Körper anfangt. Noch einmal seufze ich tief, als Zeichen meiner Aufgabe, als Hinweis für den Tod, dass ich bereit für ihn bin.
Scheiße, funktioniert nicht. Ich bin noch immer im Rettungswagen und spüre jede Bodenwelle, jede Kurve, bewusst und hellwach. Ich wusste, es würde nicht funktionieren. Ich glaub ohnehin nicht an den Tod. Ich will’s wenigstens nochmal versuchen und stell mir einen Typen mit einem Kapuzenmantel und einer Sichel vor, auf der Bank neben dem Sanitäter sitzend, aus dem Heckfenster blickend und nur darauf aus, mich zu kriegen. Scheißkerl, denke ich. Ich will ihn ärgern, damit er mich früher zu sich holt. Scheißtod. Ich wette, du kriegst mich nicht. Ich scheiß auf dich.
Ich bemerke, dass ich tatsächlich »Scheißkerl« gesagt habe, und der Sanitäter glaubt, es ist an ihn gerichtet. Wissend, dass ich aus dem Todestrakt komme, rückt er vorsichtshalber ein wenig weg von mir.
Für Insassen aus unserem Haus gilt die Unschuldsvermutung natürlich nicht.
Ich sehe Lichter vorbeiziehen, von Gebäuden, die nicht dazu da sind, Gefängnisinsassen unterzubringen; da vergesse ich den Todestrakt einen Augenblick lang, und mir wird bewusst, dass ich aus dem Knast raus bin. Ein paar Meter von mir entfernt gehen Menschen den Gehsteig entlang, die womöglich nie im Gefängnis waren, denen noch nie Handschellen angelegt wurden. Der Rettungswagen hält an, der Sanitäter steht auf und öffnet die Hecktür, und zum ersten Mal seit Monaten spüre ich richtige Frischluft. Es hat eben geregnet, und ich nehme den Geruch einer nächtlichen Stadt wahr. Die Aufregung darüber, dass ich meine Sinne benutze, lässt mich den Tod vergessen. Ich werde aus dem Rettungswagen gezogen, und sogleich verliere ich infolge der ruckartigen Bewegungen der Trage wieder das Bewusstsein.
Durch ein Fenster dringt Sonnenlicht herein. Ein richtiges Fenster, beinahe in Zimmerbreite. Kein Alibi-Scheibchen, das nur eingesetzt wurde, um die komplette sinnliche Entbehrung zu verhindern. Auf der anderen Straßenseite sehe ich ein Gebäude, darin Menschen, die an Schreibtischen arbeiten. Wahrscheinlich gehen sie bald mittagessen. Als ich noch draußen war, hätte ich auch öfter mittagessen sollen. Mortadella-Sandwiches, im Taxiwagen verschlungen, sind kein richtiges Mittagessen. Nichts von dem, was ich im Gefängnis bisher bekommen habe, kommt auch nur annähernd an ein ordentliches Mittagessen heran.
Meine Hand ist mit Handschellen an die Seite der fahrbaren Krankentrage gefesselt. In meinem anderen Arm steckt eine Infusionsnadel. Ich trage ein Spitalshemd, und meine Seite schmerzt nicht mehr so stark. Mit der gefesselten Hand zieh’ ich das Hemd hoch und schau auf meinen Bauch. Geht nicht gut, weil die Handschellen mich zurückhalten. Ich versuche die andere Hand, aber die zu bewegen, tut wegen der Nadeln und dem Klebeband weh. Ich gebe auf und lasse mich wieder in das Kissen fallen.
Eine Krankenschwester kommt rein, eine ältere, schwarze Frau, und sieht mich wach. »Einen schönen guten Tag«, sagt sie freundlich. »Wie geht’s Ihnen heute?« Sie kommt zu mir rüber und prüft meine Fieberkurve, prüft dann ein paar der Dinger, an denen ich hänge.
»Gar nicht schlecht«, antworte ich ihr. Das ist die erste Frau, mit der ich seit sechsundfünfzig Tagen gesprochen habe. Oder zweiundsechzig Tagen, oder von mir aus seit dreiundfünfzig Tagen. Ich hab versucht, die Tage zu zählen, indem ich meinen Fingernagel so lange an der weißen Farbe der Betonziegel gerieben habe, bis ein Abdruck zurückblieb. Eigentlich wollte ich das jeden Tag machen, hab es aber sicher ein paarmal vergessen. Außerdem bin ich erst nach einer Woche auf die Idee gekommen, kommen also noch ein paar Tage dazu. Im Prinzip hab ich mein Zeitgefühl verloren. Jedenfalls
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