Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
ein Lächeln zu unterdrücken, ein Bedürfnis, aufzustehen und diesen Mann zu umarmen. Hab ich ihn womöglich gar falsch eingeschätzt?
»Wir haben einige Charakterzeugen, die zu Ihren Gunsten aussagen werden«, fährt er fort, seinen Blick auf die vor ihm auf dem Tisch verstreuten Dokumente geheftet. »Wir haben eine gewisse Frau Gravatte, eine ältere Dame, die in Ihrem Haus wohnt. Und dann noch eine Frau namens Karen Eames, mit der Sie offenbar mal zusammen waren …«
»Karen?« Dieselbe Karen, die mir nach dem Streit beim Cowboys-Spiel die Kaution bezahlt hat? Die ich mit ihrem neuen Boyfriend Händchen haltend in dieser Bar angetroffen habe, die ich besser niemals aufgesucht hätte? Die tritt nach all den Jahren auf den Plan, um für mich und meine Integrität auszusagen?
»Ja … ich hab ihren Namen aus den Unterlagen über Ihre Festnahme vor fünfzehn Jahren. Sie kommt von Houston rüber, um zu bestätigen, dass Sie … na ja, Sie wissen schon, sexuell normal sind.«
Ich fasse es nicht! Und die liebenswürdige, alte Frau Gravatte. Da hab ich jetzt also in meiner Ecke zwei Frauen zur Unterstützung – eine habe ich seit einem Jahrzehnt nicht gesehen, und der anderen tut es immer noch leid, dass sie grob zu einem Nazi war. Immerhin, besser als gar nichts. Die ganze Zeit habe ich hier mit dem Gefühl herumgesessen, keinen Freund zu haben, und dann stellt sich heraus, dass ich jemanden kenne, der mehrere Stunden Fahrt in Kauf nimmt, nur um zu Protokoll zu geben, dass ich … sexuell normal bin.
»Was heißt das eigentlich genau – sexuell normal?«
»Dass Sie nie die Neigung gezeigt haben, mit Kindern Sex zu haben. Die Aussagen früherer Sexualpartner bezüglich sexueller Vorlieben sind erstaunlich überzeugend. Normalerweise haben die Menschen ein Leben lang sehr ähnliche sexuelle Impulse.« Ich bemerke, dass Randall müde aussieht. Er ist ein fauler Kerl ohne rechten Ehrgeiz und sicher nicht das hellste Licht, das jemals Rechtswissenschaften studiert hat, doch er hat etwas Anständiges an sich, das mir bisher entgangen ist. Ich habe das Bedürfnis, ihn zu motivieren, also lehne ich mich über den Tisch und sage seinen Namen.
»Ja?« Er unterbricht seine Tätigkeit und blickt mich an.
»Ich möchte, dass Sie etwas verstehen. Ich hab das nicht getan. Wirklich nicht. Sie haben den Falschen eingesperrt.«
Mister Randall blickt zur Seite, dann wieder auf seine Papiere. »Ja«, sagt er. »Darum geht’s ja gerade in einem Gerichtsprozess. Das wollen wir ja herausfinden.« Ohne mich anzuschauen, zieht er noch eine Akte aus seiner Tasche und sagt: »Gehen wir noch einmal die Frage durch, warum Sie das Auto mit dem Dampfreiniger gesäubert haben.«
Erst später, allein in meiner Zelle, wird mir bewusst, wie absurd es ist, dass Karen in meiner Verhandlung für mich aussagt. Sie soll eine Jury davon überzeugen, dass ich kein Verlangen nach Sex mit Kindern habe, woraus die Geschworenen wiederum den Schluss ziehen sollen, dass ich kein Mörder bin. Was ich mit dieser Sex-und-Mord-Geschichte zu tun habe? Ach ja – ich habe auf einem Fensterbrett einen Fingerabdruck hinterlassen.
Im Grunde sind die Vorwürfe gegen mich nichts weiter als eine Geschichte, eine Erzählung, die sich aus einigen zufällig ausgewählten Informationsteilchen speist, die ein in der Öffentlichkeit vertrautes Bild ergeben. Unglücklicherweise gibt es tatsächlich Menschen, die zu den Handlungen imstande sind, die mir vorgeworfen werden. Und wenn diese Menschen dann erwischt werden, benehmen sie sich wahrscheinlich genau so, wie ich mich benehme, das heißt, sie bestreiten alles. Wie unterscheidet sich ein wahrhaft Unschuldiger von jemandem, der es nur darauf anlegt, als unschuldig wahrgenommen zu werden? Wer immer sich eines derartigen Verbrechens schuldig gemacht hat, wird versuchen, sich so zu verhalten, wie ich – ein tatsächlich Unschuldiger – dies tue. Die Frage ist, wie ich mich von diesen Nachahmern unterscheiden soll.
Ich überlege, diesen Satz in mein noch immer leeres Tagebuch zu schreiben, entscheide mich dann aber dagegen, weil es eigennützig erscheinen müsste. Nur ein Schuldiger würde sein Tagebuch dazu benützen, seine Unschuld zu behaupten. Oder etwa nicht? Vielleicht würde ein Schuldiger auf derartige Gedanken gar nicht erst kommen. Vielleicht würde ein Schuldiger so handeln wie ich, also in seinem Tagebuch nicht über seine Unschuld schreiben, weil er dächte, das sei zu offensichtlich. Ich weiß, dass es
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