Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
dann zustimmend und tritt zurück, sodass ich mehr Platz zum Stehen habe. Andere folgen seinem Beispiel, sodass rund um mich ein freier Kreis entsteht, trotz des Gedränges im Dock.
Überall stehen Wärter herum. Ein Wärter mit Uniformstreifen und einem Klemmbrett tritt aus der Hecktür des Busses ins Ladedock heraus und ruft mit dröhnender Stimme: »ALLES MAL RUHIG JETZT!«
Im Dock wird’s ganz still, abgesehen vom Surren der Kühlanlage und dem Dieselmotor des Busses.
»Hört mal zu! Ich rufe eure Namen auf, und wer aufgerufen wird, steigt in den Bus ein. Ihr nehmt jeweils den Sitz am weitesten vorne. Keiner steigt ein, bevor er aufgerufen wurde. Wer nicht aufgerufen wird, bleibt im Dock stehen. Verstanden?«
»JAWOLL« ertönt es aus zahlreichen Stimmen in betäubendem Einklang.
Er fängt an, Namen aufzurufen, und einer nach dem anderen geht ruhig vor zum Bus. Nach einigen Minuten bleiben noch drei von uns im Dock übrig – ich selbst, ein adrett aussehender Weißer im College-Alter und ein Mexikaner voller Banden-Tätowierungen. Der Wärter sieht uns an, dann schlägt er die Hecktür des Busses zu und verriegelt sie; schließlich fährt der Bus unter Hinterlassung einer Wolke giftiger Abgase weg. Es ist plötzlich ganz ruhig geworden im Dock. Ich und die beiden anderen Insassen stehen still da, während die restlichen vier oder fünf Wärter herumgehen und auf ihre Klemmbretter schauen.
»Das war der Bus nach Dallas«, erklärt der Wärter mit der dröhnenden Stimme. »Herrera, Sie fahren ins Gericht nach Waco, nicht wahr?«
Der tätowierte Mexikaner nickt.
»Ihr beide fahrt nach Westboro.« Er zeigt auf mich und den jungen Weißen. »In einer Minute werdet ihr hier von einem Wagen abgeholt.«
Wir stehen im Dock, und mir wird bewusst, dass dies mein bester Morgen seit Monaten ist. Mit ein paar Knastbrüdern rumzustehen und für einen Tagesausflug in die Stadt eingeteilt zu werden, ist ja eigentlich nicht gerade wahnsinnig lustig oder spannend, doch ausschlaggebend ist das Neue daran – endlich einmal verläuft ein Tag nicht exakt so wie der vorhergehende. Heute werde ich Menschen und Straßen und Bäume zu sehen bekommen. Heute krieg ich eine Gratisfahrt nach Westboro mit diesem adretten Jungen da.
Ein schwarzer Lieferwagen, so einer wie der Überwachungswagen, kommt an, vorne sitzen zwei Officers drinnen. Der hintere Bereich des Vans ist mit einem Stahlkäfig abgeteilt, und die Schlösser an den Türen sind große Stahlriegel, die wieder angelegt werden müssen, sobald der Junge und ich eingestiegen sind. Ein komfortables Gefährt mit Klimaanlage, und ich kann durch die dicken Stahlgitter in den Fenstern schauen. Die Sonne geht über der endlosen texanischen Ebene auf und schafft ein überwältigendes Kaleidoskop aus Rot und Orange. Mein Zellenfenster geht nach Süden raus, also krieg ich nie Sonnenuntergänge oder Sonnenaufgänge zu sehen. Dieses Naturschauspiel versetzt mir nun einen Schub positiver Energie. Ist es möglich, dass all dies bald vorüber ist, dass ich in allen Punkten freigesprochen werde, dass die Jury diese Farce durchschaut und mich nach Hause schickt? Ich fühle einen Schmerz an der Stelle, wo mir die Nähte entfernt wurden, und erinnere mich daran, nichts zu hoffen.
»Ich bin Josh«, sagt der Junge neben mir und streckt seine Hand aus. Wir schütteln einander die Hände, ich stelle mich vor.
»Ich hab dich noch nie gesehen«, sagt er. »Bist du ein Frischling?«
Ein Frischling ,also ein Neuling im Gefängnis, ist normalerweise eine abwertende Bezeichnung. Erinnert an Wildschweine. »Ich bin nicht bei den Normalos«, sage ich, wohl wissend, dass dies weitere Fragen nach sich ziehen wird.
»Wow«, ruft er aus. »Du bist im Zeugenschutzprogramm?«
Ich nicke. Damit wäre das mal erledigt. Josh fallen keine Fragen mehr ein, er schaut still aus dem Fenster, während wir durch die letzten Gefängnistore rollen. Die Neuheit des Tages verleiht mir allerdings Energie und macht mich so neugierig, dass ich ihn meinerseits frage, was er denn angestellt habe.
»Mich haben sie mit drei Kilo Gras erwischt«, sagt er vergnügt. »Ich hoffe, der Richter findet, ich habe genug gesessen und schickt mich nach Hause. Ich bin schon drei Monate drinnen, außerdem hab ich einen guten Anwalt.«
Westboro ist ein wohlhabender Vorort, und Josh kommt aus einem Haus mit Geld. Er lächelt, ich sehe, dass er voller Hoffnung ist, und seine Hoffnung ist wohlbegründet, kein Wunschdenken. Er sieht die
Weitere Kostenlose Bücher