Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
Für mich ergeben sich alle möglichen Fragen, während ich diese erfundene Geschichte zum zweiten Mal höre. Warum ist das Mädchen nicht weggerannt, wenn es so ängstlich war? Wenn sie das Fenster runtergelassen hat, bedeutet das nicht, dass ich den Zündschlüssel – und das noch halb umgedreht – stecken gelassen habe? Wie blöd muss man sein, um dies in einer solchen Gegend zu tun? Und vor allem: Warum würde ich eine eben entführte Geisel unbeaufsichtigt an einem öffentlichen Ort zurücklassen? Die ganze Story kippt langsam ins Groteske, und ich blicke rüber zur Jury, um zu checken, ob die darauf reagieren.
Die Jury-Sprecherin, die Brünette mit dem harten Blick, starrt den tätowierten Zeugen mit traumseliger Faszination an. Das ist der Blick eines Groupies beim ersten Rockkonzert ihres Lebens. Ich stelle sie mir als Hausfrau vor, mit einem schwachbrüstigen Tollpatsch als Mann. Die Härte in ihrem Blick rührt von der Tatsache her, dass sie sich immer um alles kümmern muss. Ich bezweifle, dass das die Rolle ist, die sie sich für ihr Leben gewünscht hat. Ich nehme an, ihr reicht das alles längst, und sie phantasiert über einen Kerl wie diesen Zeugen – einen gnadenlosen Typen, ein brutales Tier, das ihr niemals zugestehen würde, selbst Entscheidungen zu treffen.
Mein Musikerfreund macht einen interessierten Eindruck, als ob er sich über die tolle Geschichte freute, die er seinen Freunden am Abend bei einer Wasserpfeife erzählen wird. Ich glaube, der ist mehr daran interessiert, wo sich der Zeuge seine Tattoos zugelegt hat, als am Inhalt seiner Aussagen. Die schwarze Frau mit den gütigen Augen gibt nicht acht. Sie scheint ausgestiegen zu sein. Ein Typ, der aussieht, als habe er in der Armee gedient, starrt die hartäugige Brünette an, wie die den Zeugen anstarrt. Ein Hobbyfotograf könnte davon ein Bild machen und ihm einen dieser beschissenen Titel geben wie »Unerwiderte Liebe«.
Ich kann es den Geschworenen nicht verdenken, dass sie sich mental verabschieden. Ich selbst bin kaum noch in der Lage, meiner eigenen Verhandlung wegen Mordes zu folgen. Ich habe bloß den schrecklichen Verdacht, dass wir aus unterschiedlichen Gründen aussteigen: Ich mache es, weil mich die ganze Scheiße langweilt. Nach einer Weile lässt sich das kaum vermeiden. Man kann nur ein gewisses Maß an erfundenen Storys ertragen. Wenn Aussagen wie »Ich sah ihn, wie er bla bla bla …« dieses Maß des Erträglichen übersteigen, kriegst du irgendwann glasige Augen, und das Zuhören tut gar nicht mehr weh.
Die Jury-Mitglieder steigen aus, weil sie sich ihre Meinung bereits gebildet haben und sie die Sache bloß noch hinter sich bringen wollen.
»Also, erzählen Sie mal«, sagt Randall. »Er hat dem Mädchen durch das Fenster auf der Fahrerseite eine Limonade gereicht?«
»Nein, durch das Beifahrerfenster.«
»Ach wirklich? Wie konnten Sie das von der Stelle aus sehen, an der Sie angeblich gestanden haben? Das wäre dann ja die falsche Seite des Autos gewesen?«
»Weil er im Retourgang eingeparkt hat«, antwortet der Zeuge lächelnd. »Es war das Beifahrerfenster, weil er reversiert hat.«
Halleluja! Der Staatsanwalt hat erkannt, was Ramirez gesagt hatte, fand eine Notiz vom gerichtlich-technischen Gutachter, der zufolge sich das Fenster auf der Fahrerseite nicht senken ließ, und informierte rasch den Scheißkerl hier, die Geschichte zu ändern. Er weiß, dass alles Quatsch ist. Die Polizisten und die Staatsanwälte wissen ,dass diese Kerle lügen. Alle wissen, dass sie den Falschen angeklagt haben. Und trotzdem bleiben sie bei ihrer Anklage!
Ich habe zwei Zeugen zu meiner Verteidigung. Larry Thomas, der ältere schwarze Polizeibeamte, der mich im Gefängnis aufgesucht hat, und Karen, die von Houston runtergefahren ist, wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt. Karen sieht gut aus. Sie trägt das Haar kürzer und hat ein paar Lachfalten, aber ihre Figur hat sie gehalten. Ob sie wohl mit dem Mann verheiratet ist, mit dem sie damals Händchen haltend in der schäbigen Bar gesessen hatte?
Vor ihrer Aussage blickt sie zu mir rüber und lächelt. Ein trauriges Lächeln zwar, aber immerhin seit zehn Monaten wahrscheinlich das erste Lächeln von einer Person, die mich kennt. Diese Frau hat ja auch wirklich einen Teil ihres Lebens mit mir verbracht. Hat sich um mein Abendessen gekümmert, mit mir geschlafen, ist mit mir aufgewacht und hat mich herumgefahren, wenn mein Auto defekt war. Und ich hab für sie das
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