Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
Kaffee. Wir blicken aus dem Fenster, während wir ihn trinken. Eine Stunde vergeht. Eine Stunde ist gar nicht schlecht, erklärt mir Randall. Es gibt Leute, die werden in vierzig Minuten verurteilt. Das scheint, so Randall, die Mindestzeit zu sein, die eine Jury für die Urteilsfindung für schicklich hält. Auch wenn sie einen unumwunden und augenblicklich schuldigsprechen wollen, trödeln sie für gewöhnlich etwa vierzig Minuten lang herum, um auf diese Weise dem Gericht ihren Respekt zu erweisen, so als würden sie sich eingehend mit der Beweiswürdigung beschäftigen. Je länger die Geschworenen brauchen, desto besser für den Angeklagten.
Eine weitere Stunde vergeht, und Randall erscheint regelrecht verzückt. Zwei Stunden! Mir wird plötzlich bewusst, dass dies für die Anwälte offenbar einen Gradmesser ihres Erfolges abgibt. Nicht darauf kommt es an, wie viele Klienten freigesprochen werden, sondern wie lange die Jury bis zu einer Verurteilung benötigt. Diese Dauer stellt ein Maß dafür dar, wie sehr du die Geschworenen beschäftigt hast, wie viel Verwirrung du in ihrem Kreis zu stiften vermochtest. Ich bin mir sicher, dass die meisten von Randalls Klienten schuldig sind, ein Freispruch mithin kaum eine realistische Option ist. Nach einer weiteren halben Stunde holt Randall mir ein Corned-Beef-Krautsalat-Sandwich aus der Kantine.
Wenn ich es recht bedenke, bin ich dieser Verhandlung von Anfang an misstrauisch gegenübergestanden. Während meiner zehn Monate im Todestrakt habe ich mir eine neue Sichtweise zugelegt, einen Blick hinter den Vorhang, wo die Fäden gezogen werden. Dass sich der Staatsanwalt ganz einfach eine neue Lüge ausdenkt, um seinen Zeugen damit zu präparieren, hätte mich am Tag meiner Festnahme noch wesentlich stärker überrascht. Inzwischen habe ich genug gesehen und genug von Roberts Weltsicht erfahren, um zu wissen, wie es läuft in der Welt. Die wollten den richtigen Täter gar nie finden, die wollten nur jemanden, der es gewesen sein könnte und der weder über die Mittel noch über die Beziehungen verfügt, einen Wirbel zu veranstalten. Dass nur ja die Medien und die Familie des Opfers und die Einwohner von Westboro nicht auf die Idee kommen, ihnen Untätigkeit vorzuwerfen. Wenn sie den richtigen Kerl erwischt hätten, dann umso besser, unbedingt notwendig war das aber nicht. Es ist jedenfalls undenkbar, dass ein zwölfjähriges Mädchen aus einer reichen Familie verschwindet und die Polizei nicht wenigstens irgendjemanden dafür festgenagelt.
Der Festgenagelte bin ich.
»Es tut mir leid«, sagt Randall zu mir. Und als ich ihn fragend anschaue, fährt er fort: »Es tut mir leid wegen meiner Bemerkung damals, ich hätte auch eine zwölfjährige Tochter.«
Ich hatte das völlig vergessen. Da sitzen ein paar Zimmer entfernt zwölf mir völlig fremde Personen, um zu entscheiden, ob man mich freilassen, ich den Rest meines Lebens in einem Käfig verbringen oder umgebracht werden sollte, und Randall denkt ausgerechnet daran ? Weiß er, dass ich unschuldig bin? Ist es ihm egal? Fällt ihm wirklich nichts Besseres ein, als noch rechtzeitig vor meiner Verurteilung sein Schuldkonto bei mir zu bereinigen? Seine Reue nervt mich. Ich habe meine eigenen Probleme. Bin mit anderem beschäftigt als mit Sündenerlass.
»Danke für den Kaffee und die Sandwiches«, sage ich. »Bezahlen Sie das aus eigener Tasche?«
Er findet diese Frage trivial, ja abwegig. »Wir bekommen ein Tagegeld für Spesen«, sagt er.
Wie viel mag das wohl sein? Und was passiert mit dem Rest, falls mal was übrig bleibt? Haben mein Sandwich und mein Kaffee das ganze Tagegeld ausgeschöpft? Oder räumt Randall jeden Tag vier oder fünf Scheinchen zur Seite, um seiner Frau und Tochter ein paar Süßigkeiten mitzubringen? Wenn er mir früher von diesem Spesengeld erzählt hätte, dann hätte ich vielleicht mehr als das Sandwichund den Kaffee bestellt.
Gerade als ich ihn Näheres zum Tagegeld fragen möchte, geht die Tür auf, und ein grimmig dreinblickender Gerichtsdiener lässt uns wissen, dass die Jury zurückgekommen ist.
Drei Stunden und vierzig Minuten. Zwar deutlich länger als vierzig Minuten, aber auch nicht lange genug für eine echte Hoffnung.
Ich weiß, was passieren wird, aber als die Brünette mit dem harten Blick dann tatsächlich das Wort »schuldig« abliest, schießt mir dennoch das Blut in den Kopf. Ich fühle mich augenblicklich schwach und frage mich, ob ich leicht schwanke, wie kurz vor dem
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