Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
hätte, frage ich mich, wenn jemand zugegeben hätte, den Bericht gelesen zu haben. Hätte man ihn oder sie aus der Jury entfernt wegen der Lektüre eines Artikels, in dem die Möglichkeit meiner Unschuld erwogen wird? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies der Fall gewesen wäre, und will gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutet. Stattdessen wende ich mich wieder der Betrachtung der aufwendigen Holzverzierungen in den Fensterrahmen und am Richterpodium zu.
Der Tag beginnt mit den zwei Zeugen, die mich in der Nacht der Entführung angeblich mit dem Mädchen gesehen haben. Der erste ist ein kleiner Mann lateinamerikanischer Herkunft. Seine reichlich vorhandenen Gangster-Tätowierungen versucht er unter einem schlecht sitzenden Anzug zu verbergen, doch kann ich an seinem Hals einen hervorlugenden Schlangenkopf erkennen. Als er seine Hand auf die Bibel legt und ihm dabei der Ärmel hochrutscht, werden noch mehr Schlangen sichtbar.
Der Staatsanwalt macht heute einen aufgeregten Eindruck. Ich kann mir vorstellen, dass auch er über den Zeitungsartikel empört war. Er spricht den Zeugen als »Mister Herrera« an, das ist der Name des Zählerstandlesers, der zu Protokoll gegeben hatte, dass die Fenster stets verriegelt seien.
»Ramirez«, korrigiert ihn der schlangenverzierte Mann.
»Mister Ramirez«, nickt er. Auf seiner Stirn hat sich Schweiß gebildet, und ich bemerke ein leichtes Zittern seiner Hände beim Durchgehen der Papiere auf dem Podium. Das erinnert mich an den gestrigen Auftritt Randalls. Möglicherweise haben sich die Gewichte ein wenig verschoben, hat sich der Wind zu unseren Gunsten gedreht. »Haben Sie den Angeklagten schon einmal gesehen?«
Ramirez erzählt eine gewundene Geschichte, wie er sich in der fraglichen Nacht in einer Bodega in seiner Nachbarschaft aufgehalten habe, da habe irgendwann mein Taxi vor dem Haus gehalten. Ich sei hineingegangen, um eine Limonade zu kaufen, dann sei ich wieder rausgekommen und hätte die Limonade einem Passagier auf dem Rücksitz gegeben, bei dem es sich, so stellte Ramirez fest, um ein junges Mädchen gehandelt habe. Das junge Mädchen habe verängstigt ausgesehen, aber trotzdem das Fenster heruntergelassen und die Limonade genommen.
Augenblicklich hole ich mir den vor Randall liegenden Notizblock und schreibe: »Das hintere Fenster auf der Seite des Fahrersitzes ließ sich nicht senken! Es war kaputt.« Randall liest die Notiz und nickt. Das ist Goldes wert! Das ist wie in einer Folge von Perry Mason oder Law and Order ,wenn ein Lügner vor allen Leuten entlarvt wird. Es dauert noch an die zwanzig Minuten, bis Ramirez mit seinem lächerlichen Geschwafel fertig ist. Er ist sich sicher, dass ich der Taxifahrer war. Einer seiner Freunde habe sogar darauf hingewiesen, wie seltsam es sei, dass ein Taxifahrer einem verängstigten jungen Mädchen auf dem Rücksitz eine Limonade kaufe. An so was erinnert man sich natürlich noch lange.
Dann ist Randall an der Reihe, und wieder bin ich fasziniert von dem Wandel, der in ihm vorgegangen ist. Von dem kleinen, verschwitzten, chaotischen Stotterer hat er sich in den smarten und aggressiven Anwalt verwandelt, auf den ich vom ersten Tag meiner Verhaftung an gehofft hatte. Selbstbewusst und zornig schreitet er zum Podium. Keine Ahnung, ob es am Zeitungsartikel liegt oder an seiner plötzlichen Erkenntnis, ich könne ja tatsächlich unschuldig sein, jedenfalls fühle ich mich jetzt tatsächlich von jemandem vertreten. Ich überlege, ob sich die Verwandlung auch auf sein Sexualleben ausgewirkt hat, ob seine Frau gerade jetzt mit einem versonnenen Lächeln im Bett liegt und sich fragt, was wohl in ihren Mann gefahren sei.
»Sind Sie schon mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden?«, fragt Randall Mister Ramirez.
Der Staatsanwalt bringt schreiend Einwände vor. Es entwickelt sich ein Schreiduell, im Zuge dessen sich Randall einen Verweis holt. Offenbar ist die Frage nicht zulässig, also beginnt er von neuem.
»Als Sie sich der Polizei als Zeuge anboten, wo befanden Sie sich da?«
Ramirez neigt sich zum Mikrofon hin und sagt leise: »Im Gefängnis.«
»Warum waren Sie da?«
Ramirez zuckt mit den Achseln.
»Ich brauche eine Antwort auf meine Frage, Mister Ramirez«, insistiert mein Anwalt mit beinahe schreiender Stimme. Ich spüre selbst auch eine Wut in mir hochsteigen, die sich in zehn Monaten Gefängnis aufgestaut hat und sich jetzt auf dem Umweg über Randall Luft macht. Eine Katharsis! Nach fast einem Jahr ohne
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