Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Warum war die Tür nicht verschlossen? Und was hat er jetzt mit ihr vor? Hilfe! Ihre Arme sind fest in seinem Griff, und als sie versucht, sich freizustrampeln, fühlt sie, wie ihre Beine schnell lahm werden, die Angst sitzt als Milchsäure in den Zellen. Ihr Herz hämmert wie wild, und die Zunge ist auch gelähmt, irgendjemand presst seinen Steifen an ihren Hintern, da kann sie nicht reden und nicht einmal denken.
»Victor?«
»Pssst!«
Es ist Victor. Sie erinnert sich an die Hand auf ihrem Knie, wie dämlich, dass sie ihn nicht sofort abgewiesen hat, als noch Zeit dazu war und ehe er anfing, sich etwas einzubilden, weil sie sich nicht entschieden genug gewehrt hat. Hilfe, was hat sie nur getan? Sie hätte die Spielregeln einhalten und ihn nicht heißmachen dürfen, wenn sie nur Alex zum Gehen überredet hätte, dann wäre ihr das hier erspart geblieben. Jetzt muss sie es auf die harte Tour lernen, außer – bitte, bitte, Alex, kannst du nicht aufwachen und mich retten?
Sie denkt an all das, womit man sie in der Schule gefüttert hat: Wie man Nein sagt, sich selbst verteidigt und Widerstand leistet, und sie macht den Mund wieder auf, versucht zu schreien, aber erneut kommt nur ein mickriger, zischender Laut heraus. Wie macht man das bloß? Verdammt noch mal, wie macht man das, wenn man so dumm ist, dass man nichts begreift, und solche Angst hat, dass man zu nichts mehr in der Lage ist?
Die Panik steigt in ihr hoch, bis sie merkt, dass Victor seinen Schwerpunkt ein klein wenig verlagert. Er stützt sich auf den Ellenbogen auf und versucht, sich auf sie zu legen, und da wächst ihr plötzlich von irgendwoher Kraft zu. Genau in dem Augenblick, als er kein Gleichgewicht hat, bäumt sie sich auf, und er muss sie loslassen.
Super, sie kommt auf die Füße, wirft sich gegen die Eingangstür, die geht auf, und Jonna fällt in den Gang hinaus. Es funktioniert! Die Leuchtstoffröhren blenden sie, aber sie rennt los, rast davon – und er jagt nicht hinter ihr her.
10
Eine Tür. Ein Schloss.
In Ruhe gelassen zu werden.
Schlafen zu können, ohne dass jemand kommt und stört.
Drei, vier, sechs, sieben Metalldrähte zwischen den Wänden aufgespannt. Wie bescheuert sie doch war! Neunundzwanzig, zweiunddreißig, fünfunddreißig Fliesen in die eine Richtung, elf, zwölf in die andere. Sie hatte sich so darauf gefreut, in den Weihnachtsferien ihr Zimmer neu zu streichen, hatte sich eingeredet, dass die Einrichtung wichtig ist, sie wollte auch Gardinen aufhängen und aufräumen, aber jetzt wird ihr mit einem Mal klar, worin der eigentlich Wert eines Zimmers besteht: Es ist eine Zone, in der man seine Ruhe hat.
Sie kauert im Trockenraum des Wohnheims, eine Etage unter Minkens Gang, und zittert am ganzen Leib vor Heimweh und vom Weinen. Wenn jetzt Tag wäre und sie wenigstens Schuhe anhätte, um rauszugehen, dann würde sie direkt zum Hauptbahnhof und geradewegs nach Kolsva fahren. Auf der Stelle.
Aber es ist erst drei oder vier Uhr morgens, draußen ist es stockfinster und im Haus und unten auf der Straße totenstill. Außerdem hat sie, als sie in Panik aus Minkens Wohnung floh, weder ihre Schuhe noch die Schultasche oder die Jacke gegriffen.
Also muss sie warten. Die Ecke, die sie dafür gefunden hat, ist absolut in Ordnung – es riecht gut nach Waschmittel, die Tür hat sie mit einem Wischmobb unter der Türklinke blockieren können, und wenn sie den Ventilator auf höchste Stufe stellt, muss sie auch nicht frieren.
Langsam beruhigt sie sich. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass jemand gegen die Tür pocht, desto ruhiger wird sie. Schließlich übermannt sie die Müdigkeit, ihre Augenlider werden schwer, und sie rollt sich wie eine Katze auf dem Boden zusammen und schläft.
Als sie wieder erwacht, muss sie an Alex denken, die noch oben bei Minken liegt.
Die hat sie jetzt im Stich gelassen.
Das schlechte Gewissen quält sie. Aber was hätte sie denn sonst machen sollen? Sie muss dran denken, wie sie am Abend auf dem Eis getanzt haben, eine helle und eine dunkle Eisprinzessin, und an den überbordenden Triumph und die Freude, die sie verspürte. Seit der Grundschule hatte sie nicht mehr ein derartiges Gefühl von Wärme und Zusammengehörigkeit mit einem anderen Mädchen verspürt. Damals, als man so viel zusammen spielte, glaubte sie, es wäre ganz leicht, Freunde zu finden, aber als sie älter wurde, kamen die Schwierigkeiten. Inzwischen hatte sie die Hoffnung beinahe verloren.
Ist sie wirklich bereit, das jetzt
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