Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
haben. Der Stifttroll, den Jonna in ihrer Schultasche hat, ist von ihm, offenbar scheint er einmal vorbeigekommen zu sein, an ihrem ersten Geburtstag. Aber Großmutter sagt, er wohne jetzt auf Zypern, habe eine eigene Firma, und das klingt natürlich besser, da ist es zumindest das ganze Jahr über warm.
Jonna zittert und tritt etwas Schnee gegen die Wand.
Sie würde auch lieber auf Zypern wohnen als in Kolsva, aber das Wichtigste ist doch, mit Menschen zusammen sein zu können, die einen mögen. Vielleicht könnte sie herumreisen und irgendwie den Armen helfen, Hauptsache, sie kommt von der Einsamkeit weg und muss nicht immer nur von sich und ihrem eigenen Leben träumen.
Plötzlich packt sie das schlechte Gewissen, und es wird ihr eiskalt in der Brust. Sie muss sich sofort in eine Ecke neben dem Kiosk stellen und das Handy rausholen. Ein wenig zögert sie noch, aber dann wählt sie schnell und routiniert die Nummer und wagt kaum zu atmen, während es klingelt.
»Bodil Öberg.«
Die Einzige, die all die Jahre hindurch für sie da gewesen ist. Wirklich. Zwar auf ihre Weise, aber immerhin, wie konnte sie nur all das Gute vergessen, was Oma für sie getan hat?
»Hallo, ich bin’s.«
»Jonna! Wo bist du? Warte kurz …«
Jonna hört, dass Großmutter jetzt nüchtern ist, sie klingt ein wenig kurzatmig, und in ihrer Kehle rasselt es, als sie das Telefon weglegt, aber sie ist eindeutig nüchtern und guter Laune.
»…So! Ich musste nur eben hinter der Katze die Tür zumachen. Ich komme grade vom Bingo.«
»Und, hast du was gewonnen?«
»Ach, nur ein bisschen für die Kaffeekasse. Aber es gab frischen Kuchen, und das ist ja nie verkehrt. Kommst du zu Filip und Fredrik ? Um acht Uhr, heute läuft der siebte Teil!«
Oje, nun wird sie die Folge ganz allein anschauen müssen. Sie wird allein auf dem Ledersofa sitzen, obwohl sie doch all die Jahre Filip und Fredrik zusammen angesehen hatten, alle Staffeln. Und morgen, am Weihnachtstag, wird sie auch ganz allein Donald Duck und Aladdin ansehen müssen.
Plötzlich muss Jonna sich ganz schön zusammenreißen, damit ihre Stimme nicht zittert, als sie sagt: »Ich ruf nur an, um zu sagen, dass es mir gut geht, Oma.«
»Eva geht es auch gut, deine Mama hat aus Palma angerufen.«
»Okay, es dauert vielleicht noch eine Weile, bis ich nach Hause komme, aber ich bin bei einer total netten Freundin, und du sollst dir auf keinen Fall Sorgen machen, es geht mir gut.«
»Die haben Meeresblick und Frühstücksbuffet!«
»Hast du ihr etwas von mir erzählt?«
»Nein, was denn?«
Ja, was denn auch? Ihre Großmutter klingt so fröhlich und unbekümmert, dass Jonna einen unangenehmen Kloß im Hals bekommt. Sie räuspert sich und beendet das Gespräch so schnell es geht.
»Ich muss jetzt aufhören, Alex ruft nach mir. Bis bald und frohe Weihnachten, Oma!«
Frohe Weihnachten.
Lange steht sie mit den Händen in den Taschen und mit hochgezogenen Schultern da. Es ist ja nicht so, dass sie und Oma großartig viele Weihnachtstraditionen hätten. Jonnas Mutter konnte all die Jahre immer erst im letzten Moment sagen, mit wem sie feiern oder wie viele Stunden sie freihaben würde, deshalb haben sie eben gemeinsam auf sie gewartet. So hat die Tradition hauptsächlich aus einigen Folgen Aladdin und Donald Duck im Fernsehen bestanden.
Aber dass ihre Oma morgen nun ganz allein dasitzen muss und Jonna das überhaupt nicht bedacht hat, sich vielmehr gewünscht hat, dass ihre Großmutter traurig sein und weinen würde, weil Jonna sie so im Stich gelassen hat und abgehauen ist – das ist so widerlich, zutiefst undankbar und egoistisch.
Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Sie versucht, die Buchstaben auf den Aushängern zu zählen, das erste Plakat geht gut, aber das zweite macht Schwierigkeiten, da verzählt sie sich andauernd. Wird sie jetzt genauso egoistisch wie Mama? Vierundvierzig, siebenundvierzig, fünfzig, sie blinzelt fest und wischt sich die Augen. Angeblich wer den ja sogar schlechte Eigenschaften von Mutter zu Tochter vererbt.
Aber was hätte sie denn machen sollen? Hätte sie etwa die Oma mit hierhernehmen sollen?
Plötzlich geht hinter ihr eine schwere Metalltür auf, und ein junges Mädchen kommt heraus.
»Hallo.«
Jonna dreht sich erstaunt um. Hallo? Warum hat die sie gegrüßt? Wer war das? Jonna mustert sie, aber das Mädchen ist bis über die Ohren eingemummelt und verschwindet so schnell und scheu um die Ecke, dass Jonna nicht einmal zurückgrüßen
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